Debatte über den Imperialismus

Totgesagte leben länger

Der Imperialismusbegriff muss entmystifiziert werden, damit er analytische Trennschärfe erhält.

Der Imperialismus ist tot, es lebe die Kapitalismuskritik. So lässt sich in etwa die Kernaussage mehrerer Beiträge zusammenfassen, die in dieser Artikelserie erschienen sind. »Eine Analyse der politischen Ökonomie der Gegenwart ergibt keinen Grund, warum man mit Lenin hinter die Marxsche Analyse zurückfallen sollte«, schrieb Martin Krauß in diesem Sinne. Michael Heinrich wiederum plädierte energisch dafür, »diesen mit Vulgärmarxismus, Ökonomismus und Moral durchtränkten Zopf des Traditionsmarxismus abzuschneiden«.

Aufgehängt wird die Kritik an der Imperialismusterminologie erstens daran, dass der militärische Aspekt der Unterwerfung fremder Länder nicht gleichermaßen aktuell und charakteristisch für das dominierende System sei, wie das vielleicht vor 1914 der Fall war. Zum zweiten basiere der Imperialismusbegriff auf der falschen Annahme einer Fusion zwischen Staatsmacht und dominierenden (Monopol-)Kapitalfraktionen.

Drittens werde diese Vokabel aber inzwischen auch von Rechtsextremen und religiösen Fundamentalisten benutzt. Hierzu sei allerdings sogleich angemerkt, dass beispielsweise der Nationalsozialismus sich durchaus auch als »antikapitalistisch« verstand oder jedenfalls in seiner Propaganda so darstellte. Jeder Begriff kann, wird ihm sein ursprünglicher Sinngehalt entzogen, in einen anderen Diskurszusammenhang eingebettet werden. Lässt die Linke dies geschehen und gibt sie deswegen Teile ihrer Kritik am Bestehenden auf, überlässt sie automatisch unappetitlichen Bewegungen als »alleinigen Systemgegnern« das Feld.

Umso dringender wird es dadurch für die Linken, für genügend analytische und politische Trennschärfe zu sorgen, um jede Verwechselbarkeit oder Austauschbarkeit der Diskurse auszuschließen.

Nun zum Kern des Disputs, dem Imperialismusbegriff. In den oben zitierten Kritiken werden mehrere Diskussionsebenen auf unzulässige Weise miteinander vermengt. Zunächst gilt es, zwischen dem analytischen Kern eines Konzepts, einer zu einem gegebenen Zeitpunkt aktuellen Zustandsbeschreibung in kritischer Absicht und dem eigenen Gegenentwurf des Gesellschaftskritikers zu unterscheiden.

Worin besteht der analytische Kern der Imperialismustheorie? Lenin oder Rosa Luxemburg hatten zu ihrer Zeit zunächst auf eine drängende Fragestellung zu antworten: Warum hat die Sprengkraft der »sozialen Frage«, des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, den Kapitalismus nicht bereits erschüttert? Lenin und Luxemburg antworteten darauf: Der Kapitalismus hat es geschafft, die in seinen Kernländern konfliktträchtige »soziale Frage« im Weltmaßstab zu exportieren. Durch den Erwerb und die Ausbeutung von Kolonien, die Ausplünderung neu entdeckter Kontinente und die auf diese Weise erzielten Extraprofite.

Zu Lenins Zeiten hieß das: Eine - minoritäre - »Arbeiteraristokratie«, die am stärksten vom Kolonialhandel profitiert und beispielsweise in den Hafenindustrien arbeitet, dient als revolutionshemmender Faktor. In späteren Jahrzehnten war diese Beschreibung in den kapitalistischen Metropolen zu modifizieren. Vor allem in der Periode zwischen 1945 und 1975 kamen die Früchte des in den Kernländern des Kapitalismus erreichten Entwicklungsniveaus dem größten Teil ihrer Gesellschaften zugute, auch wenn sie selbstverständlich sehr ungleich verteilt blieben. Heute ändert sich das wieder, in regressivem Sinne.

Der Kern des imperialistischen Verhältnisses ist also ökonomischer und nicht militärischer Natur. Der militärische Aspekt ist lediglich die Form, in welche die Absicherung dieses Zusammenhangs allerdings jederzeit zurückfallen kann. Entscheidend aber ist, dass die Ausbeutung - von Menschen sowie von belebter und unbelebter Natur - im Weltmaßstab unterschiedliche Niveaus aufweist. Dabei stehen sich nicht »imperialistische« und andere Länder jeweils als monolithische Blöcke gegenüber. Sondern auf beiden Seiten sind es soziale Klassen, die in eine transnationale Produktions- und Wertschöpfungskette eingebunden sind. Ihre globale Ausgestaltung ist nach wie vor die sicherste Garantie dafür, dass das kapitalistische Klassenverhältnis, das sich darunter verbirgt, unerkannt und damit stabil bleibt.

In den privilegierten Kernländern wird ein Teil der abhängig Beschäftigten dazu gebracht, sich zur Verteidigung des einmal erreichten Standards auf die Seite der Verteidiger des Systems zu schlagen, gegen den »Ansturm der Armen«. Auf der anderen Seite ist auch in den Gesellschaften etwa des Trikont eine verzerrte Sichtweise verbreitet. Demnach ist die unterschiedliche Verteilung von Lebenschancen auf dem Planeten auf einen kulturellen Angriff zurückzuführen. Er gelte beispielsweise den Gesellschaften des Islam, weil dieser den »gottlos gewordenen westlichen Gesellschaften« oder auch »den Christen und den Juden« ein Dorn im Auge sei.

Die militärische Form der Imperienbildung charakterisierte vor allem den imperialistischen Kapitalismus der Periode zwischen 1880 und 1914. Es ist wahr, dass diese Erscheinungsform seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich durch Formen der indirekten Kontrolle ehemals politisch beherrschter Territorien abgelöst worden ist. Das Elend wird jetzt besser durch »eigene« Eliten dieser Länder verwaltet, manchmal unter Zuhilfenahme »identitätspolitischer« Legitimationsideologien. Für die betroffenen Bevölkerungen ist das mitunter noch schlimmer.

Das ökonomische Gefälle zwischen ehemaligen Metropolen und ehemaligen Kolonien oder unterworfenen Territorien wird dadurch nicht aufgehoben. Unter der Kolonialverwaltung im Rahmen interimperialer Arbeitsteilung dereinst auf eine enge Spezialisierung zugeschnittene Ökonomien beispielsweise in Afrika hängen mitunter in hohem Maße von den Exporterlösen einiger weniger Rohstoffe oder Agrarprodukte ab.

Es ist Unsinn, diesen internationalen Ausbeutungszusammenhang mit einem abstrakten Kapitalismusbegriff bezeichnen zu wollen - so, als würden Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft sich auf gleichförmige Weise in einem nationalen wie einem internationalen Rahmen gegenüber stehen.

Der Begriff der »Globalisierung« hilft ebenfalls nicht weiter, denn er erfasst mitnichten das Kernverhältnis. Die »Globalisierung« im heute gebräuchlichen Sinne wird als ein neuartiges Phänomen des späten 20. Jahrhunderts dargestellt. Für den afrikanischen Kontinent ist die Einbindung in eine globale Ökonomie seit dem 16. Jahrhundert eine greifbare Realität. Sie basierte zunächst auf dem Sklavenhandel - gleichzeitig der Akkumulationssockel, auf dem westeuropäische Ökonomien aufbauten - und später auf der Ausplünderung der Bodenschätze.

Die Rede ist natürlich von Kapitalismus. Aber dieser Kapitalismus ist durch die geschilderten Phänomene ein für allemal historisch ausgeformt. Kritik von rechts an seinen jeweils aktuellen Formen hat es schon immer gegeben. Vorgestern opponierten französische Reaktionäre gegen die Kolonisierung wegen deren vorgeschobenem Ziel, »den Primitiven die Zivilisation zu bringen«. Da die »Rassen« von Natur aus ungleich seien, sei dies verschwendete Energie und koste nur Geld. Heute kritisiert Jean-Marie Le Pen die neuen Formen der »Globalisierung«, da sie die französische Ökonomie zugunsten jener fremder Länder ausbluten ließen.

Selbstverständlich hat sich seit Lenins Zeiten vieles geändert. Aber auch wer den Kapitalismus beschreiben will, muss seit Marxens Ära eine Reihe von Veränderungen in seinen konkreten Erscheinungsformen zur Kenntnis nehmen. Tatsächlich hat das als »Globalisierung« beschriebene Phänomen seit 25 Jahren eine Reihe von Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung mit sich gebracht. Am Ende des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich fast die ganze Industrie in Europa oder Nordamerika, die Kolonien lieferten lediglich Rohstoffe. Am Ende des 20. Jahrhunderts werden ganze industrielle Produktionszweige ausgelagert. Die neue Arbeitsteilung behält die Dependenz der strukturell weniger entwickelten Länder bei, verringert aber auch die politischen Gestaltungsräume in den ehemaligen Metropolen selbst.

Unabhängig davon zu klären ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Gegenentwurf des Kritikers dieser Verhältnisse. Lenins Beschreibung der zu seiner Zeit aktuellen Erscheinungsform des imperialistischen Kapitalismus war wohl stark von seinem Gegenentwurf in Gestalt seines Revolutionsmodells geprägt. Die Idee einer Verschmelzung ökonomischer und politischer Macht sollte dem Vorhaben Vorschub leisten, den »staatsmonopolistischen« Knotenpunkt zwischen beiden zu besetzen. Auf diese Weise sollte eine zentralisierte und disziplinierte Partei die Gesellschaft von oben revolutionieren. Das Ergebnis dieses Versuchs ist bekannt.

Einen anderen Gegenentwurf hat ein Teil der nach dem Mai 1968 radikalisierten Generation favorisiert. Alle Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung wurde auf die »vom Imperialismus unterdrückten Völker« projiziert. Und im unerschütterlichen Glauben an »kämpfende Völker«, die heldenhaft zusammenstünden, wurden alle sozialen und politischen Widersprüche innerhalb der solcherart mystifizierten Gesellschaften ignoriert.

Es gilt heute, den Begriff des Imperialismus selbst aus diesem ideologischen Schutthaufen zu befreien und ihm neue analytische Schärfe zu verleihen. Gegnerschaft zum Imperialismus bedeutet nicht, den Mystifikationen der so genannten Antiimps das Wort zu reden.

Alexander Schudy schlägt vor, die - teils kritikwürdigen - Traditionen des Antiimperialismus »antinational zu analysieren«. Seine Wortkombination deutet die Gefahr einer erneuten ideologischen Aufladung der Analyse des Bestehenden an. Seine Ansicht aber ist richtig: Es gilt, einen Internationalismus zu fördern, der sich grundsätzlich auf soziale Kräfte und Kämpfe und nicht auf mystifizierte »Völker« zu beziehen hat.