Der 1. Mai und die Folgen

Zweimal Plus macht Minus

Die Randale am 1. Mai ist vieles nicht, aber politisch ist sie.
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An den Imbissbuden und vor den einschlägigen Kneipen stehen die Kämpfer und trinken ihr Feierabendbier. Siegeslaune macht sich breit, man stößt an auf einen gelungenen Randaleabend. Es ist der 1. Mai 2002, die Uhr zeigt 23.59, da beginnt es zu regnen. Wie zum Hohn für Innensenator Ehrhart Körting, der sich für den 1. Mai nichts sehnlicher gewünscht hatte als »zwölf Stunden Platzregen«. Doch der Wettergott war ganz auf Seiten der Autonomen und bescherte ihnen nach einer insgesamt regnerischen Woche ausgerechnet am 1. Mai einen rundum sonnigen Tag.

Das Wetter mag ein Grund dafür gewesen sein, weshalb so viele Menschen auf den Beinen waren. Und das, obwohl sich die radikale Linke in Berlin zuvor so zerstritten wie nie gezeigt hatte. An den politischen Forderungen der Demos jedenfalls wird es nicht gelegen haben. Die unterschieden sich in keiner Weise von denen der früheren Jahre. Für die Revolution und gegen alles andere. Das Bestreben einer Repolitisierung des 1. Mai, wie es das Personenbündnis um den FU-Professor Peter Grottian postuliert hatte, war kläglich gescheitert. Vorher wurde zwar heftig diskutiert, jedoch nicht über politische Inhalte, sondern über das Personenbündnis selbst.

Der Eindruck, der 1. Mai in Kreuzberg sei vollkommen unpolitisch und die Randale alles andere als links, wurde von Bildern wie diesem bestärkt: 30 Leute schlagen wie bekloppt auf eine Bushaltestelle ein, als gelte es, dem ärgsten Feind ein für alle mal den Garaus zu machen. Auch die wachsende Zahl von Hooligans spricht dafür, dass der 1. Mai immer mehr als eine Spielart der Chaostage verstanden wird. Motto: Hau druff! Hauptsache irgendwas fällt um.

Auch wenn es widersprüchlich klingen mag, müssen sowohl die Demos als auch die Randale vor dem Vorwurf der Inhaltsleere und der Politikfreiheit in Schutz genommen werden. Zumindest vor der Kritik derer, die selbst dabei sind, das Politische aufzulösen. So konnte man am 1. Mai auf dem Fest am Mariannenplatz zwischen Luftballons bei den Grünen und Zuckerwatte bei der PDS wählen. Und wenn die FDP als einziges Politikziel »18 Prozent« formuliert, ist das genauso wenig politisch, wie wenn zwei Männer mit fast identischen Wahlprogrammen zum Kanzlerduell anrücken.

Während die Gesellschaft dabei ist, die Politik abzuschaffen, und das bestehende System, das jeden Lebensbereich durchdringt, als alternativlos darzustellen, wirft man ausgerechnet einer rebellischen Jugend Politiklosigkeit vor. Diese mit Vehemenz vorgetragene Selbstbehauptungskampagne reicht von der CDU bis zur linksliberalen taz, die die Meinung vertrat, man müsse nicht Politologen, sondern Ethnologen befragen, um den »Gewaltkarneval« zu verstehen.

Wie gesagt, politische Inhalte sind am 1. Mai kaum sichtbar geworden, und die wenigsten Krawallieros können ein bewusstes politisches Motiv für ihre Zerstörungswut vorweisen. Dennoch geht es bei der Randale um mehr als um die Wahl zwischen Luftballons und Zuckerwatte. Es geht vor allem um den öffentlichen Raum. Darum, dass die Straßen und Plätze dieser Stadt immer mehr dem Interesse der Wirtschaft am Konsum und dem Sicherheitsinteresse der Polizei untergeordnet werden.

Videoüberwachte, von Punkern, Skatern und Alkoholikern gesäuberte Plätze, Einkaufstempel mit immer gleichen Geschäften, von privaten Sicherheitsdiensten kontrolliert. Hier fühlen sich immer weniger Menschen wohl. Wer kein artiger Konsument sein will, ist in Berlin immer öfter fehl am Platz. Am 1. Mai, so rief es eine Punkerin in eine Fernsehkamera, da »gehört endlich uns die Straße wieder, da nehmen wir uns den Raum zurück!«

Und wenn zur Erklärung der Randale gesagt wird, die Jugendlichen würden nur aus Langeweile Bushaltestellen zerdeppern, gilt es festzuhalten: Langeweile ist auch Ausdruck einer immer sinnentleerteren Welt mit wachsendem Leistungs- und Konkurrenzdruck einerseits und einer stark normierten, öden Freizeitkultur andererseits. Und sie ist Ausdruck eines Sozialabbaus, der auch vor Jugendclubs und Schwimmbädern nicht Halt macht.

Außerdem ging es bei den Ausschreitungen - so paradox das klingen mag - auch um den Kiez. Denn Tatsache ist, dass es in Kreuzberg 36 nicht eine einzige Einkaufspassage gibt, keinen einzigen McDonald's und auch kein Multiplex-Kino. Grund dafür ist durchaus auch der schlechte Ruf der Gegend. Auch dass sich keine Neonazis dort niederlassen, ist ein Ergebnis des Mythos, der sich inzwischen um den 1. Mai rankt.

All das soll an dieser Stelle gar nicht bewertet und schon gar nicht glorifiziert werden. Es gibt daran auch genügend zu kritisieren. Eines aber muss gegen die organisierte Meinungsmache gesagt werden: Die Randale ist vieles nicht, aber politisch ist sie!

Interessant ist, dass diesmal beide Seiten, also Senat und Autonome, den 1. Mai als Erfolg feiern. Die Polizei hat bewiesen, dass es auch ohne ihre Anwesenheit zu Randale kommt, dass die Gewalt nicht nur eine Reaktion auf ihr martialisches Auftreten ist. Und die Autonomen konnten zeigen, dass sich auch ohne Demo der Krawall seinen Weg bahnt. Schließlich begann die Randale in Kreuzberg, als die mit der 13-Uhr-Demo fusionierte 16-Uhr-Demo schon längst aufgelöst und die 18-Uhr-Demo noch am Alexanderplatz unterwegs war. Dieser Umstand dürfte es dem Senat in Zukunft erschweren, die Revolutionäre Mai-Demonstration als Ausgangspunkt aller Missetaten zu verbieten.

Die Randale war mit zahlreichen brennenden Autos und Barrikaden, mehreren Plünderungen und reichlich Glasbruch wesentlich umfangreicher als im letzten Jahr, als sich die Pflastersteinorgie nur an einer Straßenecke abspielte. Die Szene ist daher zufrieden. Ein politischer Erfolg ist für das 18-Uhr-Bündnis aus AAB, felS, antifaschistischen und autonomen Gruppen auch die Demonstration. Trotz Spaltung konnte dieses Bündnis rund 13 000 Menschen zum Rosa-Luxemburg-Platz mobilisieren. Dabei war der Auftaktort erst zwei Wochen vor dem 1. Mai verlegt worden. Es konnte außerdem so viel Druck auf den rot-roten Senat ausgeübt werden, dass dieser letztlich gegen den heftigen Widerstand der Polizeiführung eine Route vom Rosa-Luxemburg-Platz durch Mitte genehmigte.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass die ursprünglich geplante Route durch die glitzernde Friedrichstraße und entlang des Außenministeriums wieder einmal nicht genehmigt wurde und damit auch unter einer SPD-PDS-Regierung das Demonstrationsrecht eingeschränkt bleibt.

Diskutiert wird seit letzter Woche über das Deeskalationskonzept der Polizei. Während Körting dessen Erfolg verkündet, werfen CDU und Polizeigewerkschaft dem rosaroten Senat völliges Versagen vor. Aber die jeweiligen Presseerklärungen hätte man auch schon vor dem 1. Mai fertigstellen können, so wenig überraschend ist deren Gehalt. Auf jeden Fall ist die Polizei deutlich weniger durch Provokationen und wilde Prügelorgien aufgefallen als in der Vergangenheit. Der Versuch zu deeskalieren, war augenfällig und nicht nur ein Lippenbekenntnis. Eine Ausnahme war allerdings die Idee, die 18-Uhr-Demo entgegen der Planung auf dem völlig unübersichtlichen, dunklen und viel zu kleinen Michaelkirchplatz in einem Polizeikessel enden zu lassen. Dass es dort nicht zur völligen Eskalation kam, lag einzig und allein an der Besonnenheit, Trägheit oder Ängstlichkeit der Demonstranten.

Ansonsten reden alle von dem geplünderten Plus-Supermarkt am Oranienplatz. Für die einen das schlimmste Verbrechen, für die anderen ein neuer revolutionärer Mythos. Dabei ist in einer Stadt, in der durch Korruption und Misswirtschaft eine millionenschwere Plünderung der Staatskasse durch Banker und Politiker stattgefunden hat, so ein kleiner sozialer Aneignungsprozess einiger Bierflaschen und Zigaretten doch wirklich nur eine Randnotiz wert.