Parlamentswahlen

Der Aufstieg der Cocaleros

Evo Morales, Kokapflanzer und Vorsitzender des Movimiento al Socialismo, ist bei den bolivianischen Wahlen unerwartet auf dem dritten Platz gelandet.

Alle Besucher, die in der 4 000 Meter hoch liegenden bolivianischen Hauptstadt La Paz ankommen, leiden erst einmal unter »sorochipil«, der Höhenkrankheit. Als freundliche Geste bietet das Hotel seinen leidenden Gästen aus dem Ausland gegen die starken Kopfschmerzen und die Übelkeit ein »mate de coca« an. Das rettende Kokablatt wird auch für die industrielle Produktion von Kokain verwendet.

Evo Morales, der 42jährige Präsidentschaftskandidat des linken Movimiento al Socialismo (MAS), hat sein Leben dem Schutz des Anbaus von Koka gewidmet. Als er 15 Jahre alt war, verließ er seine Familie, die Ackerbau und Viehzucht in der Hochebene betrieb, und ging nach Chapare in der Region Cochabamba, um Koka anzupflanzen.

Morales und der MAS errangen am vorletzten Wochenende unerwartete politische Erfolge. 99 Prozent der Wählerstimmen wurden bisher ausgezählt, fast 21 Prozent oder rund 578 000 Stimmen bekam Morales. Knapp vor ihm landete Manfred Reyes Villa, der Vorsitzende der populistischen Partei Nueva Fuerza Republicana (NFR). Für Villa, auch als »Bombón« (Praline) bekannt, stimmten nur 1 948 Menschen mehr. Seit März hatte er in jeder Umfrage vorn gelegen.

Am Tag der Entscheidung, dem 30. Juni, vergaßen die Wähler aber auch ihren Konservatismus nicht, und so stimmten viele für den neoliberalen ehemaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada. Er ist der Vertreter des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), der Partei, die sich seit 50 Jahren an der Macht befindet, und erreichte mit 22,5 Prozent das beste Ergebnis.

»Derzeit sind die Leute enttäuscht von der Demokratie und den Resultaten des ökonomischen Modells, das sie für den Anstieg der Armut und der Ungleichheit verantwortlich machen. In den letzten 20 Jahren hat sich die bolivianische Demokratie stabilisiert, dank der Existenz eines moderaten Vielparteiensystems«, sagt der politische Analytiker Carlos Trozando, der mit der Friedrich-Ebert-Stiftung verbunden ist. »Drei Parteien waren die Grundlage für unterschiedliche Koalitionen; sie haben immer wieder eine parlamentarische Mehrheit erreicht und damit die Möglichkeit zu regieren: die Acción Democrática Nacionalista (ADN), (...) die heutzutage von dem gegenwärtigen Präsidenten Jorge Quiroga vertreten wird; der entkräftete Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR), und der oligarchische MNR«, erklärt er weiter. »Wenn der MNR nicht regiert, dann spaltet er sich, viele seiner leitenden Persönlichkeiten sind zur NFR übergetreten. Und der MIR ist im Moment sehr schwach. Das heißt, dass dieses Parteiensystem am Ende ist, wir werden - mit einer großen Unbekannten - ein neues Parteiensystem aufbauen.«

Die große Unbekannte, das dürften die sozialen Bewegungen sein. Álvaro García Linera ist ein anderer Beobachter der bolivianischen Politik, der den sozialen Bewegungen nahe steht. Fünf Jahre verbrachte er im Gefängnis, obwohl er nie formell verurteilt wurde; dank amnesty international wurde er freigelassen. Er war Mitglied der zentralen Kommission des subversiven Ejército Guerrillero Tupac Katari (EGTK). Ende der achtziger Jahre machte diese indigene Gruppe fünf Jahre lang »bewaffnete Propaganda« in der Region von Aymara. Ein anderer Präsidentschaftskandidat der radikalen Linken hat ebenfalls schon Bekanntschaft mit der bolivianischen Armee gemacht: Felipe Quispe vom Movimiento Indígena Pachakuti (MIP), der gut sechs Prozent der Stimmen bekam.

Alvaro García Linera analysiert die sozialen Bewegungen im Rahmen der so genannten Antiglobalisierungsbewegung: »Sie drücken den Widerwillen gegen die traditionellen Formen der Politik aus, gleichzeitig sind sie eine soziale und politische Opposition mit großer Mobilisierungsfähigkeit, die sogar territoriale Kontrolle ausüben können. Man kann vom Entstehen einer indigenen Bewegung sprechen, wie man sie in Lateinamerika nie zuvor gesehen hat. Es handelt sich nicht um klandestine, sondern um sehr radikalisierte kommunale Strukturen.«

Weiter führt er aus: »Wir sprechen nicht von einer Minderheit, sondern von zweieinhalb Millionen Einwohnern, von einem bedeutenden Sektor, fast einem Drittel der Bevölkerung.« Zu den Diskriminierungen, denen die ursprünglichen Einwohner Amerikas ausgesetzt sind, erklärt Garcá Linera: »Die Indígenas haben natürlich Arbeitsplätze - als Kellner, Transportarbeiter, Verkäufer, Maurer, Polizisten.« Doch die Weißen »sitzen auf den Posten der Regierung, an der Macht, im akademischen, wirtschaftlichen, militärischen Bereich. Ich würde das als 'ethnisches Kapital' bezeichnen.«

Ein ähnlicher Kommentar stammt vom Abgeordneten Andrés Solíz Rada, dessen Amtszeit Anfang August enden wird. Dann wird der nächste Kongress zusammentreten, um zu entscheiden, wer die Exekutivmacht im Palacio Quemado in La Paz ausüben wird. Nach der Verfassung gibt es keinen zweiten Wahlgang in Bolivien, und wenn kein Kandidat auf mehr als 50 Prozent der Stimmen kommt, ernennen die Kongressmitglieder den nächsten Amtsinhaber.

Solíz Rada meint: »Die bolivianische Oligarchie, die Spitzen von ADN und MNR, ist immer prochilenisch gewesen. Und zwar im politischen Sinne, weil die Oligarchie den Indígena hasst und im Chilenen einen Europäer sieht (...) Ein großer bolivianischer Schriftsteller sagt, dass diese Oligarchie das Land ausbeutet und gleichzeitig verachtet. Das ist ihr schrecklicher Widerspruch.«

Diese letzte Erklärung macht auf eines der Themen aufmerksam, das den Wahlkampf in den letzten sechs Monaten bestimmte: ein latenter »Antichilenismus«, der aus der Notwendigkeit Boliviens erwächst, sein Erdgas bald in die Vereinigten Staaten und nach Mexiko zu exportieren, und zwar über einen Hafen in Peru oder Chile. Erdgas, sagt García Linera, stehe »im Zentrum der wirtschaftlichen Akkumulation für das kommende halbe Jahrhundert in Bolivien«. Seiner Meinung nach ist »das zentrale Problem nicht, ob es über Chile oder über Peru exportiert wird, die wichtigsten Punkte sind, wie viel davon in Bolivien bleibt - 18 oder 40 Prozent; wie viel dafür bezahlt wird - 70 Centavos oder 90; ob wir hier eine petrochemische Industrie haben werden; ob man sich daran orientiert, dass beim Verladehafen auch Industrien entstehen, die Steuern und Abgaben zahlen und bolivianische Arbeitskräfte anstellen.«

Der Rohstoff müsse so verwendet werden, dass sich die »so elende und einseitig produzierende Wirtschaft« diversifizieren lässt. Seine Kritik verweist auf den Heißhunger der transnationalen Konzerne, in diesem Fall des Konsortiums Pacific LNG, zusammengesetzt aus British Petroleum, British Gas Bolivia, TotalElfFina und Repsol-YPF.

Die Bildung der neuen Regierung, die Anfang August vom neuen Kongress gewählt werden soll, wird in diesen Wochen mühsam zwischen MNR, MIR und NFR ausgehandelt. Indessen weigert sich der MAS von Evo Morales, sich einem Bündnis anzuschließen, um einen Zipfel der Macht in Bolivien zu erhaschen. Er setzt auf die radikale Stärkung einer Opposition zum gegenwärtig herrschenden Modell, ohne bislang eine Alternative vorzustellen, außer der Organisierung enteigneter Campesinos, marginalisierter Indígenas und Unzufriedener aus der Mittelklasse.

Besteht die Gefahr einer Kooptierung durch eine künftige Präsenz im Parlament? García Linera zufolge sehen einige Anführer die Sache sehr klar und »werden versuchen, die nächste Regierung in die Handlungsunfähigkeit zu treiben. Deshalb ist es wichtig, dass diese sozialen Bewegungen mit ihren bei den Wahlen antretenden Flügeln einen Aktionsplan entwickeln, einen alternativen Plan auf wirtschaftlicher und politischer Ebene.«

Am 4. Juli, dem Jahrestag der US-amerikanischen Unabhängigkeit vom britischen Imperium, wurde Evo Morales nicht zu der Feier eingeladen, die der US-Botschafter Manuel Rocha in La Paz veranstaltete. Einige Tage vor der Wahl bemerkte Rocha implizit, ein Votum für den MAS-Kandidaten hätte zur Folge, dass die USA die bedeutende Finanz- und Wirtschaftshilfe für die bolivianischen Autoritäten beenden würden. Evo Morales ließ die Gelegenheit nicht verstreichen und sandte dem Diplomaten ein wohl unwillkommenes Geschenk: ein Kokablatt.