»Jeden Morgen geht die Sonne auf«

Nina Hagen hat ein paar legendäre Stücke geschrieben, die sich tief ins kollektive Musikgedächtnis der Punkgeneration eingebrannt haben. Herzzerreißend gesungene Zeilen wie »in meiner Tasche klebt ein Bonbon« (»Auf'm Bahnhof Zoo«) vergisst man genauso wenig wie das schrill-nervige »Ich kann mich gar nicht entscheiden. Ist alles so schön bunt hier« aus dem TV-Glotzer-Lied. Das ist lange her. Die 1976 mit ihrem Stiefvater Wolf Biermann aus der DDR ausgereiste Nina Hagen ist heute schwer esoterisch drauf und verkauft vor allem indische Guruweisheiten. Mit ihr sprach Olaf Neumann.

Sie glauben, der Mensch befinde sich nur deshalb auf der Erde, um sich sich selbst zu vollenden. Er hat sein Karma zu erledigen und dabei anderen zu nützen, zu helfen und zu dienen. Wie kann uns nun Ihr neues Buch »That's Why The Lady Is A Punk« nützlich sein?

Ich weiß, wie ich Menschen nützlich sein kann. Aber auf welche Weise das Buch nützlich sein kann, das wird man erst noch sehen. Da man auf diesem wunderschönen Planeten ziemlich lange am Leben ist - manche werden ja über 100 Jahre alt - wird es vielleicht auch nicht bei diesem einen Buch bleiben. In meinem Leben ist schließlich so viel passiert. Das Buch ist aber nicht der Hauptbestandteil meines Wirkens. Ich bin nämlich noch sehr lebendig. Jetzt arbeite ich schon wieder mit vielen tollen Musikern zusammen.

»Wenn schon Kunst machen, dann muss es auch gemeinnützig sein, der Gesellschaft dienen.« Ist das ein Leitsatz Ihres indischen Gurus Mumirandji?

Diesen Satz habe ich zwar auch dort gehört, aber im Grunde genommen wusste ich das schon immer. Als ich damals in die Schlagerschule gegangen bin, wurde mir eines klar: Entertainment auf einem oberflächlichen Level ist wie Fleisch, das man nicht in den Kühlschrank tut. Es fängt ganz schnell an zu stinken. Dahinter verbirgt sich eine lebendige spirituelle Realität.

Wonach entscheiden Sie, welche Projekte Sie unterstützen?

Das kommt alles auf mich zu. Ich plane jetzt ein Benefizkonzert für die Punks in New York, die dort leer stehende Häuser besetzt haben. Durch die Einnahmen können sie diese Häuser dann kaufen.

Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie ausschließlich für wohltätige Zwecke arbeiten und nicht, um ein privates Vermögen anzuhäufen. Tatsächlich haben Sie immer noch beträchtliche Steuerschulden aus der Vergangenheit. Finden Sie, dass Geld den Charakter verdirbt?

Ich habe Geld versteckt in einem Strumpf im Wald. Aber was ist schon Geld? Der liebe Gott, der Herr des Todes und der Herr des Lebens, die Mutter der Schöpfung - die alle sind in mir drin durch meine spirituellen schamanischen Erfahrungen. Ich habe darüber auch schon Filme gedreht. Als Urchristin weiß ich, dass jeden Morgen immer wieder die Sonne aufgeht. So lange der Herr des Todes mir keinen Stein auf den Kopf wirft, sondern mich lieber im hohen Alter einen Fünf-Sterne-Tod sterben lässt.

Sie glauben an die Wiedergeburt?

Ich weiß es. Weil ich eine ganze Nacht lang Gott interviewt habe. Das haben zwar andere Menschen auch getan, aber nicht jeder kann darüber sprechen, weil es fast unmöglich ist, in solch eine Ruhe hineinzukommen, wo man über solche Sachen reden kann.

Diese Ruhe finden Sie insbesondere in Indien bei Ihrem Guru und Lehrmeister Mumirandji, der auch der »König der schweigenden Weisen« genannt wird.

Oh ja. Und auch die Ekstase und die Freude, die Superenergie und die Superliebe. Mit sich selbst sein in einer Umgebung, die so wahnsinnig geladen ist mit Kraft und Liebe. Das ist unbeschreiblich. Daher kann ich auch bis zum Rest meines Lebens das Tanzbein schwingen und dabei singen.

In Ihrem Buch steht, Sie seien ein ganz anderer Mensch, wenn Sie bei Ihrem Guru sind: ruhig und introvertiert.

Nee! Dieselbe Person. Aber das Glück, das ich dort erfahre, nehme ich immer mit, egal wo ich bin. Durch die Wirrnisse und Egokrämpfe hier im Westen wird das Glück manchmal leider vergessen.

Ihre Spiritualität hat Ihnen über so manche Lebenskrise hinweggeholfen. Kennen Sie auch Situationen, wo selbst der stärkste Glaube nicht mehr helfen kann?

Ich weiß, dass Gott im Hier und Jetzt in mir ist. Das sind Sachen, die kann man nicht mit menschlichen Worten erklären. Das ist wie beim Sex. Man kann weder über einen Orgasmus noch über eine große Liebe sprechen, man muss es erfahren. Gott ist die ständige Präsenz der Glückseligkeit, der Liebe, der Kreativität und der Energie. Man hört ja nie auf zu atmen. Eines Tages atmet man bloß anders weiter.

Früher haben Sie geglaubt, das wahre Glück in Beziehungen zu Männern zu finden. Das hat sich als Trugschluss erwiesen. Inwieweit hat der Glaube Ihr Verhältnis zu Männern verändert?

Wenn sich zwei Menschen vereinen und in einer Beziehung zusammen leben, dann ist das einfach göttlich. Von daher betrachte ich die Frage als beantwortet.

Im März 2003 wollen Sie Ihren Freund Anders Alexander Rocco Lucas heiraten. Wie stellen Sie sich Ihre Hochzeit vor?

Im März findet in Indien das göttliche Navaratri-Festival statt. Neun Tage lang. Eine glücksverheißende Zeit, da kann man gut heiraten. Dabei passiert etwas Spirituelles zwischen zwei Menschen: eine schamanische Erfahrung ohne Drogen. Beide gucken in ihre Seele hinein und versprechen sich dann am heiligen Feuer die ewige Liebe.

Rocco Anders ist ebenfalls Musiker. Würden Sie mit ihm zusammenarbeiten wollen?

Wir sind schon fleißig dabei. Seine Songs und seine Musik sind bisher noch nicht so sehr bekannt. Das wird sich bald ändern. Im Moment arbeite ich auch wieder mit einem Bigbandorchester. Es gibt so viele tolle Lieder von Gershwin, Brecht und Weill. Besonders wir Deutschen verfügen über einen enormen Kulturschatz.

Amerika, England, Indien, Deutschland, Dänemark: Sie haben an vielen Orten auf der ganzen Welt gelebt.

Ich habe Gott längst gefunden. Bei meinem ersten schamanischen Erlebnis in der Kastanienallee in Berlin. Ich repräsentiere ihn speziell durch meinen Gesang und meine Konzerte. Und natürlich auch für mich selbst in meinem privaten Lebensbereich.

Für die Zukunft planen Sie auch eine eigene Fernsehshow.

In Zusammenarbeit mit einer großen Produktionsfirma sollen acht Folgen einer ganz neuen Unterhaltungsshow entstehen. So wie damals bei Hans-Joachim Kulenkampff. Aber ich will noch gar nicht so viel verraten. Auf jeden Fall wird es einschlagen wie eine Liebesbombe. Weil es meine Lebensmission ist. Ich habe mir sogar einen Fernsehapparat mit meinem geheimen Mantra in den Oberarm geritzt.

Apropos Lebensmission: Ihr Vater Hans Oliva Hagen befand sich 1944 im Widerstand gegen die Nazis. Später in der DDR wurde er aus der SED ausgeschlossen. Ist das Aufbegehren eine Familientradition?

Mein Vater war Halbjude und ging schon als Teenager in den Untergrund. Später ist er von den Nazis gefoltert worden, man hat ihm Hakenkreuze in den Arsch geritzt. Das hat er mir selbst gezeigt. Davon war ich schon als Kind total berührt, und so konnte ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn entwickeln. Ich hätte auch Richterin werden können. Als ich sechs Jahre alt war, ist mein Papa mit mir ins Konzentrationslager nach Sachsenhausen gefahren. Die Aktuelle Kamera war dabei, das alte DDR-Nachrichtenmagazin. Ich bin mit Tränen durch Sachsenhausen gelaufen und habe mir angeguckt, wo mein Großvater umgebracht wurde. Mein Vater ist immer ehrlich gewesen, auch als er später tablettensüchtig war.

Von Ihrem Vater haben Sie auch gelernt, den Mund aufzumachen und sich nichts gefallen zu lassen.

Yes. Er war aber auch sehr lustig. Dieser einmalige Mann hat die allererste DDR-Nachkriegskomödie geschrieben: »Karbid und Sauerampfer«. Das war mein Vater - ein geiler Typ. Im Grunde genommen war er auch schon ein Punk.