Dänischer Emergency Room

Dogma hin oder her. »Open Hearts« ist einfach ein guter Film. von sandra löhr

Am Anfang geht alles ganz schnell. Ein letzter Kuss, ein dumpfer Knall, Autoräder quietschen, ein Körper prallt gegen Blech und Teer. Und dann ist für zwei Männer und zwei Frauen nichts mehr so, wie es einmal war. Das Schicksal macht sich plötzlich breit in den ansonsten so geradlinigen Wohlstandsbiografien von Niels, Marie, Joachim und Cecilie und zwingt sie dazu, ihr Leben anders weiterzuführen. Gezeigt wird das alles natürlich ohne Zeitlupe, spritzendem Blut oder melodramatischer Musik, sondern puristisch und mit der Handkamera gefilmt. Es fehlen alle schmalzigen Kunstgriffe des Mainstream-Kinos, die einem sagen wollen: »So! Nun ist es traurig. Das ist hier jetzt echt dramatisch!«

Als gute Dänin erfüllt die Regisseurin Susanne Bier mit »Open Hearts« pflichtbewusst die Regeln, die ihr Landsmann Lars von Trier einst ausrief, um das Kino vor sich selbst zu retten. Damals hieß es: weg mit dem Illusionskino à la Hollywood, weg mit der ganzen Technik und den Stars und hin zu einem Kino der Einfachheit, der wahren Emotionen und ungekünstelten Menschen. Am Firmament stand nichts weniger als die Glücksverheißung eines radikal neuen Kinos. Und obwohl die Bewegung mittlerweile ein bisschen was von ihrer ursprünglichen Stoßkraft verloren hat, kommen die interessantesten dieser Filme immer noch aus Dänemark selbst. »Open Hearts« ist der achte Dogma-Film aus dem kleinen Land, dessen cineastische Intelligenz sich einst schwor, der globalisierten, mit Spezialeffekten durchtränkten Bilderflut die Stirn zu bieten.

Man könnte jetzt eine hämische Abhandlung darüber schreiben, dass der pseudodokumentarische Stil von »Open Hearts« mit seiner ausgeklügelten dramatischen Struktur im Grunde genommen viel stärker jene Illusion heraufbeschwört, der es eigentlich entfliehen will, weil Kino streng genommen immer Illusion ist, indem es Abbilder des wirklichen Lebens in einen dunklen Raum projiziert.

Man könnte sogar sagen, dass die zugrunde liegende Geschichte des Films in ihrer platten Konstruiertheit genauso gut einer Folge von »Emergency Room« entnommen sein könnte. Man könnte auch einige Verletzungen der Dogma-Regeln nachweisen, z.B. den dezenten Einsatz von Filmmusik und Kamerafiltern und die Nennung der Regisseurin im Abspann. Man könnte es aber auch lassen und – Dogma hin oder her – einfach zugeben, dass »Open Hearts« ein guter Film ist. Weil es um einfache und elementare Sachen geht. Nichts fordert einen zum Mitfühlen auf, vielleicht ist man deswegen so nah dran.

Ungeheuer konzentriert wirft der Film einen Blick ins Innere des Räderwerks von Ehe, Partnerschaft und Alltag, in das urplötzlich die Katastrophe hereinbricht. Da ist auf der einen Seite die glückliche Familie wie aus dem Ikea-Katalog.

Niels, Ende 30, ein Mann in seinen besten Jahren, im Leben gefestigt, aber immer noch jugendlich, Arzt und liebender Vater in Jeans und mit sympathischer Brille. Marie, seine Ehefrau, ist blond, energisch, backt Kuchen in ihrer hellen Küche und kümmert sich um die drei Kinder. Die älteste Tochter pubertiert heftig und die beiden kleinen Jungs spielen selig mit der Playstation.

Und da ist das junge, perfekte Paar, das bald heiraten will: Cecilie, die zarte Köchin mit dem Madonnengesicht, und Joachim, der noch studiert, Abenteuersport liebt und ihr jeden Wunsch von den Augen abliest.

Doch dann überfährt Marie Joachim, und er wird nie wieder seinen Körper bewegen können. Und weil er ins Krankenhaus eingeliefert wird, in dem Niels als Chirurg arbeitet, und weil Marie es am Anfang so will, tröstet Niels Cecilie in den langen Krankenhausnächten, und schließlich verlieben sich die beiden ineinander.

Wie Figuren auf dem Schachbrett stehen sich Niels, Marie, Cecilie und Joachim in neuen Konstellationen gegenüber und manövrieren sich mit jedem neuen Zug tiefer ins Schachmatt ihrer eigenen Schuldgefühle.

Da ist Marie, die zwar Joachim überfahren hat, aber jetzt vielleicht ihren Mann verliert und alleine für ihre Kinder da sein muss. Und Joachim, dessen Leben zwar zerstört ist, der aber zu einem menschenverachtenden Zyniker wird, der eine Krankenschwester verbal quält und zu Cecilie sagt: »Halt’s Maul und verpiss dich lieber.« Und Cecilie, die zwar durch den Unfall ihre Zukunft und ihren Freund verliert, die aber zunächst nur aus Einsamkeit mit Niels schläft und dadurch eine Familie zu zerstören droht. Und Niels, der seine Frau betrügt, der aber nichts gegen seine Liebe zu Cecilie machen kann.

Wie beiläufig erzählt Susanne Bier hier die Geschichte der Erstarrungen im System Ehe, das vielleicht nur noch aus Freundschaft und der gemeinsamen Kinder wegen besteht. Sie zeigt die liebevolle Vertrautheit zwischen den beiden. Wenn Marie im Badezimmer pinkelt, während Niels sich die Zähne putzt, sagt das mehr über den Zustand ihrer Ehe, als alle großen Szenen es je könnten.

Aber selbst da ist der Film noch sehr genau, er baut Blicke ein, die Marie auf ihren nackten Mann unter der Dusche wirft, und ihre leisen, fast fragend wirkenden Worte beim Abendessen mit den Freunden, dass sie sich sehr wohl ein viertes Kind vorstellen könne. Ihre Augen suchen den Blick von Niels, der schnell wegguckt und nicht darauf eingeht.

Das bürgerliche Versprechen der Monogamie, das manchmal eben nur mit Selbstverleugnung aufrecht zu halten ist, wird für Niels zur Zerreißprobe. Wie lange kann man einem Menschen treu sein, wenn man sich nicht selber treu ist?

Der Film macht es sich nicht einfach. Mikroskopisch genau beobachtet er die Regungen und Handlungen der Figuren, liefert dabei aber keine einfachen Wahrheiten. Die Figuren zweifeln, lügen, verzetteln sich, haben Angst vor ihren eigenen Entscheidungen und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Ihre Handlungen ergeben manchmal keinen Sinn, sie machen Fehler und werden doch trotzdem immer weiter dahin gedrängt, wo sie sich entscheiden müssen. Immer wieder hält die Kamera subjektive Empfindungen und Sehnsüchte fest, die wie ein Luftholen im dramatischen Korsett des Plots sind.

Da streckt Joachim im kalten grobkörnigen Blau des Krankenhauszimmers lächelnd seine Hände nach Cecilie aus, aber in Wirklichkeit liegt er kalt und abweisend im Bett und verweigert seiner Freundin jeden Zugang zu sich. Gerade diese kleinen Spielereien mit der Wahrnehmung des Zuschauers lassen die Figuren noch realer erscheinen.

Aber natürlich gibt es kein richtiges Happy End. Sondern neue Konstellationen, mit denen die vier leben werden, und wenn es eine Botschaft des Films gibt, dann höchstens die, dass Dogma noch längst nicht tot ist und dass das Leben immer weitergeht.

»Open Hearts«, Dänemark 2002. Regie: Susanne Bier. Start: 9. Januar