Diesseits der Dummheit

Das Georges-Perros-Jahr ist eröffnet. von stefan ripplinger

Heuer halten die Kulturpessimisten ihr Adorno- und ich mein Georges-Perros-Jahr ab. Wir werden alle zu tun haben, die andern alle Hände voll mit der Totalität, ich mit Perrosens Partikeln. Das Hauptwerk dieses Schriftstellers besteht aus frei collagierten Aphorismen, Zitaten, Bruchstücken, Essays in drei Bänden (»Papiers collés«), von denen er hofft, ein sich langweilender Reisender könnte einen von diesen zufällig auf einer Zugbank finden. Berühmt haben ihn diese Beiläufigkeiten nicht gemacht, aber noch nach über einem Vierteljahrhundert erscheinen sie ganz neu, ganz nah.

Nie überwältigt er mit Großartigem, Genialischem, aber von der ersten Seite an glaubt man die Stimme eines Freundes zu hören, der seine Fundstücke vor einem ausbreitet. Er erzählt, wie er einmal Maurice Blanchot, dem berühmtesten Gespenst der französischen Literatur, die Hand schüttelt, kann sich gar nicht darüber beruhigen, dass solche Riesen wirklich leben wie wir alle, dass sie sogar Frauen haben wie manche von uns. Und über den kurzen Umweg eines seiner Lieblingsgedanken – dass Frauen gut beraten seien, lesbisch zu werden – kommt er wenige Sätze später auf seine Lehrerin in der Grundschule, vor der er als Neunjähriger ebensolchen Respekt wie vor Blanchot hat. Bei ihrem Anblick kriegt der Kleine einen Steifen und muss die Händchen in den Hosentaschen ballen, um ihn zu verbergen. Und am Ende sieht es so aus, als ob er auch vor dem Giganten der Literatur die Hände in die Taschen steckte. Und es sieht so aus, als ob sie löchrig wären und wir auflesen müssten, was aus ihnen herausfällt.

»Tasche voller Löcher, die ich nun einmal bin, trägt das, was aus ihr fällt, den Makel, die Spur der Irrfahrt an sich, die meine kleine Geschichte darstellt. Ich kann nicht lange sitzen bleiben. Unmöglich, mich an einem Tisch zu platzieren. Ich bleibe stets in der Nähe der Tür. Fast immer schreibe ich an einem Ort, von dem ich weiß, dass ich dort nicht ewig sitzen bleiben (s’éterniser) könnte.« Er schreibt ein Stück, von dem er annimmt, dass es nicht ewig sei. Er zeigt sich nackt, ohne dass das jemals anzüglich oder abstoßend wirkte. Er bekennt sich dazu, für die andern zu schreiben, und dazu, sie nicht zu verstehen und dass ihn das quält.

Aber er ist nicht ehrlich, bewahre! »Sagen, was man denkt, ist gewiss sinnlos und meist die Tat von Schwachköpfen, die, unterm Vorwand der Ehrlichkeit, das Geheimnis ihrer Unbedeutendheit – und manchmal teuer – verkaufen.« Er versucht nur, sich über die Dummheit nicht hinwegzutäuschen, die unser aller Erbteil ist, der Stoff, aus dem das All geschaffen, der Mensch geknetet wurde. »Ich bin nicht gegen das Geschwätz. Im Gegenteil«, wohl aber gegen den eitlen Selbstbetrug, irgendwer könnte von der sich dahinwälzenden Flut des Geschwätzes verschont bleiben, irgendeine soziologische, politologische, psychoanalytische, humanistische Ausbildung bewahrte vor der »merde originelle«, der Urscheiße.

So weigert sich der Belesene zu lesen, was man in seiner Zeit liest, Marx, Freud, Deleuze, Lacan. Lieber studiert er mit Lust die Zeitungen und selbst die Allerweltsromane, um »auf dem Laufenden zu bleiben«. Beruhigt stellt er fest: »Ohne Zahl sind die Leute, die wie Stendhal schreiben. Glücklicherweise schrieb er nicht wie sie.« So weigert er sich, auch auf die Gefahr hin, als »reaktionär« zu gelten, in irgendeine Partei einzutreten. »Ich befinde mich weder auf der Linken noch auf der Rechten, sondern mitten in der Scheiße. Das macht nicht immer Spaß.« Lieber fährt er mit dem klapprigen Motorroller, den ihm Jeanne Moreau geschenkt hat, zur Kneipe und zieht, wie ein Feinschmecker Schnecken auszupft, den Trinkern ihre köstlichen Idiotien aus der Nase.

Gleich seinem Freund Roland Barthes delektiert er sich, halb angewidert, halb entzückt, an der Dummheit des Radios. Seinem Bericht nach erträgt er, als ob er das ganze Leid der Menschheit auf seine Schultern laden wollte, stunden-, tage-, wochenlang den Sender France Musique. Er erkennt im Dummen den Menschen, den andern und sich selbst, und träumt manchmal davon, ein Hund zu sein, der unter dem Tisch kauert und dem die Tafelnden ab und zu einen Knochen zuwerfen (Perros, ein Pseudonym, ist Spanisch für »Hunde«).

Er stellt also ziemlich genau das Gegenteil eines Theodor W. Adorno dar, der sich beklagte, immer wenn er aus dem Kino trete, sei er etwas dümmer geworden. Er stellt auch das Gegenteil eines Paul Valéry dar, über den dessen Freund André Gide einst notierte: »Irgend etwas geht Valéry ab, weil er nicht an gewissen Tagen gleichsam als Trottel aufwacht.« Perros glaubt jeden Tag, als Trottel zu erwachen, und empfindet es als »Akt des Hochmuts«, sich überhaupt zu erheben. Er, der einen großen Teil des Werks von Valéry auswendig kennt, schreibt über dessen Dichtung: »Der Valérysche Vers dringt nie in den dunklen Bereich jener Sprache vor, die vom Vergehen bedroht ist und keine Zeit mehr hat, noch Toilette zu machen.«

Mit einer beiläufigen Handbewegung wischt der kleine dumme Dichter das Werk des großen klugen vom Tisch. Nichts ist dümmer, als niemals dumm sein zu wollen, sich seine Dummheit nicht einzugestehen. Jean Roudaut vermutet, Perros resignative Einsicht in die Dummheit leite an zur Bescheidenheit. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt, und die Einsicht ist Ausfluss der allergrößten Hoffart, derjenigen, die sich dem Niedrigen hingibt, weil das Hohe ihr nicht hoch genug ist. Es ist die Hoffart eines Dichters, der gegen die Sprache denkt. Denn die Dummheit, daran lässt Perros keinen Zweifel, ist die Sprache selbst. »Fern, in der Nacht des Körpers, die tote Sprache.« Und die Dichtung entfaltet sich trotz der Sprache, gegen sie, jenseits von ihr, wenn sie auch, wie Wittgensteins Leiter, gebraucht wird, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.

»Die Poesie verbirgt sich hinter den Wörtern«, notiert er einmal, und ein anderes Mal vergleicht er das Gedicht mit einer »Blindenschrift«, die man mit den Fingern ertasten müsse. Wenn die Sprache also der dumpfe, dumme Stoff ist, aus dem die Welt geformt ist, entkommen die Wörter der Dummheit nicht, auch wenn sie Toilette machen. Dann ist es töricht, zwischen der Sprache des Marktes und der des Sehers zu unterscheiden. Wenn sie der einzige Körper, der einzige Stoff ist, muss die Hoffnung aufgegeben werden, es könnte irgendetwas Reines, Hohes, Fremdes ohne sie Gestalt annehmen. Es gilt vielmehr, sich der Dummheit zu nähern, zu ertasten, was sich jenseits von ihr andeutet, es gilt, den Stoff zu ergreifen, um zu erfühlen, was er verbirgt. Das klingt ein wenig zu versponnen für solch einen Bärbeiß und ist doch ganz bärbeißig gemeint; der Dichter muss sich in den Dreck der Sprache werfen, ein finsterer Beruf.

Perros ist erst Pianist, Maler und vor allem Schauspieler, die Begegnung mit Jean Grenier, dem verschollenen Philosophen des Mittelmeers, bringt ihn zum Schreiben. Aber es zieht ihn genau in die entgegengesetzte Richtung; weil er Regen und Sturm liebt, übersiedelt er in die Bretagne, in den öden Ort Douarnenez, schreibt zwischen Stapeln von Büchern und Zeitungen, zwischen Vogelnestern und leeren Flaschen ausgerechnet in einem Speicher. Er hasse Paris nicht, sagt er, er lebe in »pari«, einer Wette, die er eingegangen ist. Es ist die, er könnte die Dichtung, er könnte die Welt bewohnen, oder, wie er selbst sagt, »sterben vor dem Tod, leben vor dem Leben, ein wenig da sein«, obwohl »Leben utopisch« ist.

Gerade die Ahnung, dass der Dichter die Wette nicht gewinnen kann, nimmt den Leser für ihn ein. Und dann verliert er sie auf ganz banale Weise, stirbt, vor 25 Jahren, an einem Kehlkopfkrebs. »Ein Schriftsteller ist ein Mensch, der immerzu sein Testament schreibt.« Im Herbst wäre er 80 geworden. Hiermit erkläre ich das Georges-Perros-Jahr für eröffnet.