Im Zweifel für den Staat

Urteil im Distomo-Prozess von oliver tolmein

Für die deutsche Bundesregierung ist er bisweilen ein alter Hut: der im internationalen Recht einst hoch geachtete Grundsatz der Staatssouveränität. Als es etwa um die Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes ging und auch als gravierende Verbrechen im Kosovo bekannt wurden, war die Botschaft aus Berlin eindeutig: Menschenrechte genießen Priorität.

Die staatliche Souveränität soll, der moderne Menschenrechtsinterventionismus führt es immer wieder gerne vor Augen, dann ihre Grenzen haben, wenn es um grundlegende Verletzungen anerkannter zivilisatorischer Standards geht. Ein Militärüberfall auf ein kleines Dorf im Süden Europas, bei dem mehr als 200 Menschen wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit von der Staatsgewalt ermordet wurden, könnte allerlei Anlass bieten für schnelle Eingreiftruppen, internationalen Polizeieinsatz und was die moderne Politik sonst noch so zu bieten hat.

Allein, das Massaker ereignete sich vor 59 Jahren, und die Täter waren Soldaten einer deutschen SS-Panzerdivision. Das Kriegsverbrechen von Distomo wäre im Land der Täter längst vergessen, hätten nicht griechische Staatsbürger sich mit ihrem Begehren um Entschädigung bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchgeklagt und zwischenzeitlich sogar die Pfändung des Goethe-Instituts in Athen erreicht, die dann aber durch einen höchstrichterlichen griechischen Beschluss gestoppt wurde.

Die Richterinnen und Richter in Strasbourg sind juristisch allerdings weitaus weniger innovativ als die Bundesregierung. Sie haben das Völkerrecht nicht mit einem Handstreich beiseite gewischt, sondern sich in ihrem Urteil, das den acht Jahre lang währenden Rechtsstreit Anfang Februar beendete, auf den Grundsatz der Staatenimmunität zurückgezogen. Gegen den Staat Bundesrepublik Deutschland dürfen deswegen keine Privatpersonen klagen, allenfalls könnte Griechenland selbst prozessieren, wobei recht unklar ist, welches Gericht sich dafür zuständig erklären würde.

Aber dazu wird es auch nicht kommen. Der Staat Griechenland hat kein Interesse daran, mit dem Nato- und EU-Partner Deutschland heftig aneinander zu geraten. Und die Bundesrepublik kann sich freuen: Der Zweite Weltkrieg hätte die deutschen Steuerzahler sonst auch in Zukunft noch teuer zu stehen kommen können.

Die Entscheidung aus Strasbourg, die übrigens taktvollerweise im Internet nur auf Französisch und nicht auch auf Englisch, der zweiten Amtssprache des Gerichts, zur Verfügung gestellt wird, geht zwar konform mit der herrschenden Meinung im Völkerrecht. Sie blendet aber gegenläufige Tendenzen aus, die es gerade im Rahmen des modernen völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes gibt, und die Individuen zunehmend auch Rechte gegen Staaten gewähren will.

Insofern ist die Entscheidung nicht nur im konkreten Fall unerfreulich, weil sie verhindert, dass ein schweres Kriegsverbrechen deutscher Soldaten geahndet wird. Sie ist auch allgemein nicht zu begrüßen, weil sie Staaten vor den Ansprüchen von Individuen schützt, während der Übergriff von Staaten auf die Rechte anderer Staaten oder deren Staatsbürger, wie er beispielsweise im Rahmen des Menschenrechtsinterventionismus erfolgt, gleichzeitig nicht verhindert wird.