Die Farbe des Jazz

Der US-amerikanische Musikkritiker Stanley Crouch hat eine kulturpolitische Debatte im Jazz ausgelöst. von tobias rapp

Mit einer einfachen E-Mail kündigte das Monatsmagazin Jazztimes, die größte amerikanische Jazz-Zeitschrift, ihrem Kolumnisten Stanley Crouch. »Lieber Stanley – wir haben uns entschlossen, deine Kolumne zu beenden«, hieß es in der vor einigen Wochen ausgesprochenen Kündigung. »Du hast deinen Standpunkt dargelegt, was Jazz ist und wer ihn spielen kann, und wir haben das Gefühl, dass die Kolumne nun an ihr Ende gekommen ist. Es ist Zeit, sich weiter zu bewegen.«

Nichts Besonderes, möchte man meinen: Eine Redaktion kündigt einem Mitarbeiter die Kolumne auf, eine Kolumne obendrein, die während der wenigen Monate ihres Erscheinens zu wütenden Reaktionen in der Leserschaft und einer schier endlosen Serie von Leserbriefen geführt hatte. Doch weit gefehlt. Es geht um Schwarz und Weiß, um Lesarten der Geschichte, um diametral entgegengesetzte ästhetische Konzepte, um das Begleichen alter Rechnungen und zu guter Letzt um Macht und Einfluss in der amerikanischen Jazz-Szene. Anstatt Ruhe in den eigenen Laden zu bekommen, sieht sich Jazztimes mit Pro-Crouch-Solidaritätsadressen von zahlreichen anderen Autoren konfrontiert, sogar Crouchs Erzfeind, der marxistische Jazz-Poet Amiri Baraka, kritisierte die Kündigung.

»Alle Jazzkritiker der großen amerikanischen Zeitungen sind weiß«, hatte Amiri Baraka im vergangenen Winter bei einer Podiumsdiskussion über »Jazz und sozialen Protest« im New Yorker Lincoln Center gesagt, um hinzuzufügen: »Dann gibt es noch Stanley Crouch.« Auch in den Redaktionen der großen amerikanischen Jazzmagazine gibt es keinen einzigen schwarzen Redakteur. Auch wenn man Barakas Solidaritätserklärung für Crouch als Unterstützergeste von einem afro-amerikanischen Intellektuellen gegenüber einem anderen interpretieren kann – der Umstand, dass eine vorwiegend von Weißen gemachte Zeitschrift einem schwarzen Mitarbeiter kündigt, ist nur ein Aspekt des Konflikts. Bei der Podiumsdiskussion jedenfalls wurde die bloße Erwähnung Crouchs von dem überwiegend schwarzen Publikum mit einer Mischung aus Gelächter und Aufstöhnen quittiert.

Obgleich Crouch schwarz ist und ihm selbst seine Gegner zugestehen, dass er ein brillanter Essayist ist – er ist vor allem umstritten. Er ist als Reaktionär verschrieen, dem vor jeder Form von Political Correctness graut und der regelmäßig den Widerspruch von Liberalen und Feministinnen heraufbeschwört wie sonst nur beinharte Sympathisanten der Bush-Regierung. Gangsterrapper hält er für den »Abschaum der Erde«, er schrieb einen Verriss über Toni Morrison, der das Werk der Nobelpreisträgerin um einige Jahrzehnte überleben dürfte, er verteidigte Quentin Tarantino in dem Moment, als Spike Lee diesen wegen der Verwendung des Wortes »Nigga« angriff, und Amiri Baraka ist für Crouch bis heute LeRoi Jones, ein Name, den Baraka als slave name in den frühen Sechzigern ablegte. Vor allem aber half Crouch in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mit seinem Konzept der »Negro-Ästhetik« einen der mächtigsten Männer der amerikanischen Jazz-Szene zu inthronisieren, den Trompeter Wynton Marsalis.

In Crouchs »Negro-Ästhetik« ist Jazz eine Musik, die aus einer genuin afro-amerikanischen Erfahrung entstanden ist und deren Koordinaten man mit den Namen Louis Armstrong, Duke Ellington, Charlie Parker und John Coltrane abstecken könnte. Musikalische Entwicklungen nach 1960 sind für Crouch bestenfalls Verfallserscheinungen, ausgenommen der neo-konservative Ansatz von Wynton Marsalis, für den Jazz die klassische Musik Amerikas ist, eine Musik, deren Möglichkeiten es innerhalb des vorhandenen Formenkanons nun auszuloten und zu interpretieren gilt, ganz so wie sich klassische Orchester dem musikalischen Erbe Europas widmen.

Für Crouch haben weiße Musiker in dieser Ästhetik keinen Platz, ein weißes Publikum dagegen sehr wohl, weil es seine Sehnsucht nach einer Rebellion gegen das eigene weiße Mittelschichtswertesystem auf die afro-amerikanischen Communities und ihren kulturellen Output projiziere. Doch weil Wynton Marsalis jene Sehnsucht der Weißen nicht mehr bedienen würde, hätten sie sich gegen schwarze Musiker gewandt und würden weiße Musiker wie Dave Douglas fördern, einen Trompeter, der als Gegen-Marsalis aufgebaut werde.

Das sind nun alles keine neuen Argumente, dieser Streit tobt schon seit Jahren, das letzte Mal entzündete er sich an der großen Fernsehdokumentation zur Jazzgeschichte des weißen Filmemachers Ken Burns, die Marsalis als Chefberater betreut hatte und die weiße und europäische Musiker fast völlig ignorierte und den Entwicklungen der letzten vierzig Jahre gerade mal eine von insgesamt zehn Stunden einräumte. Interessant ist der Streit deshalb, weil der Stern von Marsalis langsam zu sinken beginnt.

Zwar ist Marsalis nach wie vor einer der mächtigsten Männer im Jazz und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des New Yorker Kulturlebens. Er leitet das finanziell gut ausgestattete Jazzprogramm des Lincoln Centers, das das Herzstück des Lincoln Jazz Orchestra bildet und in seiner Mischung aus Konzerten, Künstlerstipendien, Weiterbildungsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen ziemlich einzigartig sein dürfte. Außerdem wird Marsalis demnächst einen der modernsten Konzertsäle der Welt zur Verfügung haben. Mit privaten Spendengeldern hat das Jazzprogramm des Lincoln Centers sich ein Refugium im neuen AOL-Time-Warner-Hauptquartier geschaffen, ein gigantischer Hochhauskomplex mit der spektakulären Adresse 1, Central Park, der Ende des Jahres eröffnet werden soll.

Doch das ist nur die eine Seite. Denn trotz aller Erfolge steht Marsalis seit Monaten ohne Plattenvertrag da. Nach zwei Jahrzehnten hat Columbia seinen Vertrag nicht verlängert. Auch Marsalis’ Bruder Branford, Saxophonist und bis vor einigen Jahren künstlerischer Leiter der Jazz-Abteilung von Columbia, hat keinen Plattenvertrag mehr; er hat vor kurzem ein eigenes Label gegründet. Dafür überschwemmt Columbia den Musikmarkt mit Wiederveröffentlichungen der Helden der Vergangenheit. Thelonius Monk, Miles Davis, Duke Ellington – in immer neuen Editionen wird der Backkatolog wieder und wieder aufgelegt.

Es ist, als wäre den neo-cons des Jazz ihre Revolution auf die eigenen Füße gefallen. Dadurch, dass sie jede Innovation im Jazz seit den frühen Sechzigern entweder als kommerziell verwässert (Fusion Jazz) oder ideologisch motiviert (Free Jazz) zurückwiesen und sich auf die große Vergangenheit vor diesen Verirrungen bezogen, scheint es so, als hätten sie sich selbst das Wasser abgegraben. Denn für eine Plattenfirma ist es schlicht billiger, alte Aufnahmen neu aufzulegen, als neue Künstler aufzubauen. Und ein Publikum, das sich lieber Aufnahmen aus den Fünfzigern kauft als die der selbsterklärten Epigonen aus dem Hier und Jetzt, nimmt diese ja nur beim Wort.

Im Lincoln Center scheint man die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Die Verantwortlichen haben nicht nur angekündigt, ihr musikalisches Programm erweitern zu wollen, ein afro-kubanisches Orchester gibt es schon seit einiger Zeit. Die Diskussionsveranstaltung zu Jazz und sozialem Protest dürfte auch zu jener Neuausrichtung gehören, die von der Village Voice erstaunt als »Ende des Kalten Kriegs gegen den Jazz-Aktivismus« bezeichnet wurde.

Für Crouch ist Jazz als Protestmusik schlicht überflüssig. Das sei ein Gelände, das längst vom HipHop besetzt worden sei. Wenn Jazzmusiker sich bemüßigt fühlten, gegen etwas zu demonstrieren, so gab er in der Village Voice zu Protokoll, dann sei es der Umstand, dass so viele Schwarze sich mit HipHop identifizieren, eine Musik, deren erfolgreichste Vertreter doch nichts Weiteres veranstalten würden, als das alte Konzept der Minstrel-Shows mit neuem Leben zu füllen.