Die Prekären greifen ein!

In Frankreich wird nicht nur fleißig gegen die Renten- und Schulpläne der Regierung demonstriert, sondern auch für die Interessen der prekär Beschäftigten. von carlos kunze, paris

Eine gewisse Radikalisierung macht sich in der Bewegung gegen die Renten- und Schulpläne der französischen Regierung bemerkbar. Lehrer diskutierten Boykotte der Abiturprüfungen, auch wenn es dann nur vereinzelt dazu kam. Gleisblockaden stören den reibungslosen Ablauf des Metro- und Zugverkehrs. In Marseille, das sich zu einem Zentrum der Proteste entwickelt, ist das öffentliche Transportsystem beinah vollständig lahm gelegt. Die Abiturprüfungen mussten dort unter dem Schutz der Polizeitruppe CRS abgehalten werden. Und mit dem Eintritt der prekär Beschäftigten im Kulturbereich, der Intermittents, in die Auseinandersetzung hat sich zudem die soziale Kritik ausgeweitet.

Bereits am 3. und 6. Juni hatten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern zur Frage der Intermittents stattgefunden, am 11. Juni sollten sie weitergehen. Noch haben Intermittents, sobald sie 507 Stunden in einem Jahr gearbeitet haben, Anspruch auf zwölf Monate Arbeitslosengeld. Die Unternehmerseite hat nun vorgeschlagen, für die gleiche Stundenzahl, die nur in neun Monaten abzuleisten wäre, bloß noch sechs Monate Arbeitslosengeld zu zahlen. In den vergangenen zehn Jahren war die Zahl der Leistungsempfänger von 41 000 auf 96 500 im Jahr 2001 gestiegen, hatte sich also etwa verdoppelt.

Die anarchosyndikalistische CNT kritisiert die geplanten Verschlechterungen so: »Das bedeutet im Klartext, dass 80 Prozent der gegenwärtigen Leistungsempfänger von jeder Arbeitslosenunterstützung ausgeschlossen sein werden. So viele Kandidaten für das neue RMA (Beschäftigungsmindesteinkommen)!« Den RMA-Plan hat der neogaullistische Arbeits- und Sozialminister François Fillon am 7. Mai vorgestellt. Demnach können Empfänger von Sozialhilfe (RMI) verpflichtet werden, Halbtagsjobs anzunehmen, deren Lohn nur 140 Euro über dem monatlichen Sozialhilfesatz liegt. Der soziale Angriff läuft auf allen Ebenen.

Das Kollektiv Assoziierte Prekäre von Paris (PAP) hat in einem Flyer am 3. Juni eine Verbindung zwischen Intermittents und der allgemeineren Frage der prekären Arbeit hergestellt. Darin wird kritisiert, dass die Regierung die einzige Unterstützung abbauen will, die prekären Lohnabhängigen in Phasen der Arbeitslosigkeit zukam. Ohne die Besonderheiten der jeweiligen Beschäftigung abzustreiten, sei es doch offensichtlich, dass auch außerhalb des Kulturbetriebs viele Menschen auf diese Weise lebten. Entsprechend fordert PAP die Ausweitung der Unterstützungsregelung auf alle Prekären.

Seit dem 3. Juni hat es eine Reihe von Aktionen gegeben, um Druck zu machen. An diesem Tag platzte eine Gruppe von Intermittents und Prekären im Théâtre de la Ville in eine Premiere und verlas das Flugblatt der PAP. Das Publikum applaudierte nach Angaben von an der Aktion Beteiligten brav. Der Geruch von Revolte hat für den gewöhnlichen Zuschauer etwas Unwiderstehliches. Zudem wurde eine Versammlung im Foyer des Theaters mit etwa 30 Leuten abgehalten und der Direktor des Etablissements aufgefordert, die Aktion schriftlich zu unterstützen. Das Foyer des Theaters wird künftig für weitere Versammlungen nutzbar sein.

Zwei Tage später sollte eine Aktion vor dem Gebäude des Unternehmerverbandes Medef stattfinden. Aber die Polizeitruppe CRS hatte die Straße davor abgesperrt. Daher kam es zu einer Spontandemonstration, die am Radiosender Europe 1 vorbeiführte. Dieser Sender wird u.a. von der Gruppe Lagardère gesponsert, die für Waffenproduktion zuständig ist. Etwa 70 Menschen, überwiegend Intermittents und Prekäre, statteten Europe 1 einen Besuch ab und forderten, einen Text mit ihren Forderungen zu verlesen. Dazu kam es nicht. Die Gruppe wurde nach einer guten Stunde von der CRS aus den Räumen entfernt. Mehr Erfolg hatten etwa 20 Aktivisten, die am Montag vergangener Woche die Redaktion der Tageszeitung Libération besuchten. Zwei Tage darauf erschien ein Text zu Intermittents und prekärer Arbeit.

Vergangenen Mittwoch fand dann der sechste gewerkschaftliche Aktionstag gegen die Renten- und Schulpläne der Regierung mit Streiks im Transportsektor und im öffentlichen Dienst sowie einer Demonstration statt. Mindestens 50 000 Menschen zogen in Paris auf die Place de la Concorde. Gegenüber, am andern Ufer der Seine, liegt die Nationalversammlung, in der über die Rentenpläne beraten wurde. Auf der Place de la Concorde setzte die CRS sehr viel Tränengas ein und räumte den Platz mit Wasserwerfern und Prügeltrupps, als es zu sporadischer Gegenwehr mit Wurfgeschossen kam. Unkontrollierte Demonstrationen mit anfangs etwa 1 000 bis 2 000 Beteiligten zogen durch die Stadt, gegen die Angriffe der CRS mit Gas und Knüppeln wurden Barrikaden aus brennenden Mülleimern errichtet. Etwa 200 Leute platzten in die Oper, in der Mozarts »Cosi fan tutte« (»So machen es alle«) gegeben wurde. Die CRS umzingelte die Oper, entfernte das werte Publikum und trampelte auf denen, die sie als »Störer« zu identifizieren glaubte, herum. 54 Personen wurden in der Oper festgenommen – elf weitere auf der Place de la Concorde oder auf den wilden Demonstrationen – und auf diverse Polizeireviere verteilt. »Die Festgenommenen entsprachen einem Querschnitt der Bewegung«, sagte eine in der Oper abgegriffene Prekäre der Jungle World: Intermittents, Lehrer, Postler, Eisenbahner, Prekäre, Arbeitslose. Daher konnte auch die Gewerkschaft CGT nicht auf ihre bei solchen Gelegenheiten gern verbreitete Story von »unverantwortlichen Provokateuren« zurückgreifen, sondern war gezwungen, sich mit den Festgenommenen solidarisch zu erklären.

Für den Donnerstag hatten das PAP-Kollektiv, aber auch die Branchengewerkschaft CGT Spectacle zu weiteren Aktionen aufgerufen. An einer Demonstration nahmen 5 000 Menschen teil – eine außergewöhnlich große Mobilisierung für den Bereich der Intermittents. Unterdessen verbreitete sich allerdings die Information, dass die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern ergebnislos abgebrochen und auf den 26. Juni vertagt wurden. Der unmittelbare Handlungsdruck war somit nicht mehr gegeben und weitere Aktionen wurden verschoben.

Nicht nur wegen der heftigen Polizeieinsätze ist Innenminister Nicolas Sarkozy der Mann der Stunde. Beim Treffen mit der Schulgewerkschaft drängte er den eigentlich zuständigen Minister Luc Ferry in den Hintergrund. Einen Tag später trat er auf einem Treffen der UMP in Asnières/Hauts-de-Seine zusammen mit Premierminister Jean-Pierre Raffarin auf. Ein Stromausfall setzte dort zeitweise Licht und Tonanlage außer Kraft, die Direktion des Energieunternehmens EDF beklagte »isolierte Akte«, die »einige Lohnabhängige als Mittel zum Ausdruck ihrer Forderungen« einsetzen würden.

Raffarin erklärte, die Opposition habe »ihren Sinn für Frankreich« verloren, die Sozialisten würden »ihre Partei ihrem Land vorziehen« – ein alter, seit der französischen Revolution von reaktionären, später auch von rechtsextremen Kräften benutzter Topos. Immer ist demnach die »Partei des Auslands« für innenpolitische Auseinandersetzungen verantwortlich.

Vaterlandsverrat wollten sich die Sozialisten nicht vorwerfen lassen. Ihr erster Vorsitzender, Francois Holland, verlangte tags darauf in der Nationalversammlung eine Entschuldigung von Raffarin und sagte: »Sie können unsere Entscheidungen, unsere Doktrinen, unsere Werte zurückweisen, aber es gibt eine Sache, die Sie uns nicht streitig machen können, unseren Sinn für das nationale Interesse.«