Kirchners Attacken

Das Militär, die Polizei sowie das Oberste Gericht brüskiert und die Unterprivilegierten begünstigt – Argentiniens neuer Präsident sorgt für Überraschungen. von dieter boris

Schon nach kurzer Zeit ist das Bild, das man sich bisher vom neuen Präsidenten Argentiniens machte, nicht mehr zu halten. Der von Schweizer Vorfahren abstammende Néstor Kirchner galt als langweiliger, unerfahrener Provinzpolitiker aus dem öden Patagonien, der mit nur 22 Prozent der Stimmen ins Präsidentenamt gelangte (Jungle World, 22/03), weil sein Widersacher Carlos Ménem vor dem zweiten Wahlgang aufgab. Außerdem hieß es, er sei eine bloße Marionette seines Amtsvorgängers Eduardo Duhalde. Von diesen Vorurteilen kann man sich nun verabschieden.

Kirchner hat in mancherlei Hinsicht in seinen ersten drei Amtswochen mehr bewegt, als während zweier kompletter Dekaden zuvor von seinen Vorgängern angepackt wurde. Die gesamte militärische Führung, 50 Generäle, die noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammten und mehr oder minder stark an der Repression beteiligt waren, wurde in den Ruhestand versetzt. Ebenso wurde die Führung der berüchtigten Bundespolizei ausgetauscht.

Und kaum hatte sich die Überraschung darüber gelegt, dass Kirchner etwas tat, was seit der Militärdiktatur und im Übergang zur Demokratie noch kein anderer Präsident wagte, folgte schon der nächste Angriff. Er betraf die Mitglieder des Obersten Gerichts des Landes, das während der Ära Ménems von fünf auf neun Richter »aufgestockt« worden war, um für entsprechende Urteile zu sorgen. Kirchner forderte die zuständige Parlamentskommission auf, ihre Arbeit zur Beurteilung der Amtsführung dieses obersten juristischen Gremiums mit dem Ziel ihrer eventuellen »Entpflichtung« zu beschleunigen.

Ebenso bemerkenswert ist es, dass Kirchner ankündigte, die Archive des Geheimdienstes zu öffnen, um die Nachforschungen über das Attentat auf das jüdische Gemeindehaus in Buenos Aires (Amia) zu überprüfen. Bei dem Anschlag starben vor neun Jahren 85 Menschen, gar nichts wurde bisher aufgeklärt.

Gleichzeitig entfaltete Kirchner eine rege politische Reiseaktivität im Inneren des Landes, die mit Zusagen an die Unterprivilegierten verbunden ist, etwa an streikende Lehrer und an bislang mit »Provinzwährungen« bezahlte öffentliche Angestellte. Rentner, die weniger als 200 Peso (57 Euro) erhalten, werden ihr Weihnachtsgeld in diesem Jahr vorzeitig bekommen. All das sind vor allem symbolische Aspekte, ebenso wie der Umstand, dass Kirchner sich als erster Präsident seit 20 Jahren mit den »Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo«, einigen Vertretern der Arbeitslosenbewegung (Piqueteros) und Repräsentanten dissidenter Gewerkschaftsorganisationen traf.

Eine angekündigte Reise nach Brasilien will er nutzen, um mit dem Präsidenten Lula da Silva, der in Argentinien große Sympathie genießt, die Grundlinien für eine Reaktivierung des regionalen Integrationsprojekts Mercosur und die Positionen beider Länder zum Alca, der von den USA vorangetriebenen lateinamerikanischen Freihandelszone, zu fixieren. In seiner Antrittsrede sagte Kirchner: »Der Mercosur ist wichtig und konstituiert eine strategische politische Allianz.«

Es bleibt die Frage, ob und in welchem Maße er sein Ziel der Rekonstruktion eines »nationalen Kapitalismus« realisieren kann, der durch »Produktion und Arbeit« und weniger durch spekulative Transaktionen aus dem Kreis der argentinischen Finanzoligarchie (»patria financiera«) geprägt sein soll. Die Bedingungen dafür sind jedenfalls besser als noch vor eineinhalb Jahren, als das Land in die größte Wirtschaftskrise seiner Geschichte geriet und die völlige Einstellung des Schuldendienstes erklären musste.

Nach über vier Jahren der Rezession und dem starken Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP, allein im Jahr 2002 sank es um elf Prozent) wird das Wachstum des BIP im Jahr 2003 auf vier bis fünf Prozent geschätzt, bei einer Inflationsrate von etwa zehn Prozent. Zwei Rekordernten in der Landwirtschaft (2002/03), die aus den Agrarexporten fließende 20prozentige Ausfuhrsteuer sowie die zweistelligen Zuwachsraten im Industriesektor seit Anfang des Jahres indizieren zweifellos das Ende der Rezession. Hinzu kommen ein Haushaltsüberschuss sowie die Vergrößerung der Devisenreserven.

Nicht zuletzt infolge der positiven Handels- und Leistungsbilanz konnte der Wert der Währung, mit einer leichten Aufwertungstendenz, bei etwa drei Peso pro US-Dollar stabilisiert werden. Allerdings hat das Land seit über eineinhalb Jahren, außer an multinationale Institutionen, keine Zinsen und Tilgungen entrichtet.

Ab Mitte Juni werden erneut Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) beginnen, um ein Moratorium von drei Jahren zu erreichen. Ob der IWF damit einverstanden sein wird, muss bezweifelt werden. Denn das Anfang 2003 geschlossene Überbrückungsabkommen, das Argentinien bloß die Fortsetzung der Schuldendienstzahlungen an multinationale Finanzinstitutionen ermöglichte, läuft im August aus. Allein bis zum Jahresende sind sechs Milliarden US-Dollar nur für die Weltbank, den IWF und die Interamerikanische Entwicklungsbank fällig.

Die argentinische Regierung, die im Hinblick auf wichtige Wahlen im Herbst (Teilerneuerung des Parlaments, des Senats, Neuwahl von Gouverneuren) auf Zeit spielen wird, erwartet eine Restrukturierung der Schulden, Zinsermäßigungen und teilweise sogar Forderungsverzicht. Denn, so Kirchner in seiner Antrittsrede: »Wir können die Schulden nicht auf Kosten des Hungers und der sozialen Ausgrenzung der Argentinier zahlen.«

Der IWF wird hingegen seine alten Standardforderungen, einschließlich einiger für Argentinien spezifischer Punkte, in den Verhandlungen vorbringen: Steuerreformen, Bankensanierung, Besserstellung der Gläubiger, Beginn der Verhandlungen mit den ausländischen Staatspapierbesitzern, Konzessionen bei der Anhebung der Preise für Telefon, Elektrizität, Gas, Wasser etc. (allesamt unter ausländischer Kontrolle). Hinzu kommt die Disziplinierung der Provinzen in ihrer Ausgabenpolitik, die Neuverhandlung der Steueraufteilung zwischen Bund und Bundesstaaten sowie die »Erwirtschaftung« öffentlicher Haushaltsüberschüsse, die dann für Zinszahlungen und Schuldentilgungen zur Verfügung stünden.

In welchem Maße Kirchner zumindest einigen dieser Forderungen entgegentreten kann, hängt von verschiedenen Bedingungen ab. Einmal davon, inwieweit die Regierung eine geschlossene, wirtschaftspolitisch kohärente Position zu entwickeln vermag; zweitens davon, wie sich die ökonomische Entwicklung, der Devisenreservenstand, die Haushaltssituation, die Neuinvestitionen aus eigenen »Ersparnissen« (Wiederanlage von Gewinnen) etc. gestaltet. In dem Maße, in dem ausländisches Kapital als entbehrlich erscheint, kann die Regierung vergleichsweise entspannt manchen IWF-Forderungen begegnen.

Drittens ist es gerade für Argentinien wichtig, wenigstens Teile des »Fluchtkapitals« zur Rückkehr in den argentinischen Wirtschaftskreislauf zu bewegen. Es wird geschätzt, dass argentinische Vermögensbesitzer ca. 25 bis 30 Milliarden US-Dollar in lokalen Banksafes horten, das Drei- bis Vierfache dieser Summe wurde von Argentiniern im Ausland angelegt. Dieses Kapital zurückzuholen, kann nur ein sehr langfristiges Ziel sein und würde kaum zu Kirchners Konzept eines »nationalen« oder »regionalen Kapitalismus« passen.

Dennoch könnten sich in den nächsten Monaten die ökonomischen und politischen Spielräume für die Regierung erweitern, wenn der Präsident im Inneren seine Basis zu verbreitern und eine auf regionalen Zusammenschluss orientierte Außen- und Wirtschaftspolitik voranzubringen vermag.