Al-Qaida spielt Domino

Islamistische Extremisten werten den Wahlsieg der Psoe als ersten realpolitischen Erfolg der al-Qaida und hoffen, die USA isolieren zu können. von jörn schulz

An selbst ernannten Friedensstiftern hat es der Welt noch nie gemangelt. In der vergangenen Woche meldete sich im Wettbewerb um die effektivste friedensschaffende Maßnahme eine noch nicht gehörte Stimme zu Wort. »Zum ersten Mal in der modernen Geschichte haben Muslime die politische Richtung eines europäischen Landes in einem Schritt zur Reduzierung der globalen Gewalt positiv beeinflusst«, frohlockt man auf der islamistischen Website Jihad Unspun über die Anschläge in Madrid. Sie seien der »einzige Faktor« gewesen, der José Luis Rodríguez Zapatero, dem Psoe-Kandidaten und Befürworter eines Truppenrückzugs aus dem Irak, zum Wahlsieg verholfen habe.

Das Massaker von Madrid wird in den Kreisen extremistischer Islamisten als erster realpolitischer Erfolg der al-Qaida gewertet. Er scheint die These zu bestätigen, dass ausreichend hohe Verluste den Westen zum Rückzug aus der islamischen Welt zwingen können, und zweifellos werden islamistische Terroristen dies als Ermutigung auffassen. »Wir werden auf jeden Fall erleben, dass al-Qaida die politische Bühne stärker beeinflusst«, prophezeit Jihad Unspun.

Mit der al-Qaida verbundene Gruppen hoffen, einen Dominoeffekt auslösen zu können, der zum Abzug der US-Verbündeten aus dem Irak führt. In einer seit Oktober 2003 kursierenden Strategieschrift aus den Kreisen des al-Qaida-Netzwerks wird Spanien als schwächstes Glied in der Kette der »Koalition der Willigen« bezeichnet. Zwei oder drei Anschläge könnten die Regierung zwingen, ihre Truppen aus dem Irak abzuziehen, andernfalls »wäre der Sieg der Sozialistischen Partei so gut wie garantiert«. Verfügt al-Qaida über fähigere Analytiker als die westliche Welt, deren Experten sich noch am Wahlwochenende sicher waren, dass die Anschläge den Konservativen nützen würden?

Selten hat eine politische Führung so entschlossen ihre Inkompetenz und ideologisch bornierte Starrköpfigkeit zur Schau gestellt wie die konservative spanische Regierung nach den Anschlägen. Das dürfte mindestens ebenso wichtig für ihre Wahlniederlage gewesen sein wie die Ablehnung des Irakkrieges seitens der Mehrheit der Bevölkerung. Ohne Weiteres dürfte al-Qaida also nicht noch einmal eine Wahl gewinnen, zudem scheinen die Islamisten großes Vertrauen in sozialdemokratische Wahlversprechen zu hegen. Zapatero hat sich jedoch mit der Aussage, ein »radikaler Wandel« in der Irakpolitik und eine »Übergabe an die Vereinten Nationen« könnten den Verbleib der spanischen Truppen ermöglichen, eine Hintertür offen gelassen.

Das ändert nichts daran, dass der Mythos des Terrors als friedensschaffende Maßnahme sich verfestigen wird. Mit der großmütigen Verkündung eines »Waffenstillstands« mit Spanien hat die Brigade Abu Hafs al-Masri, die sich zu den Anschlägen bekannt hat, in der vergangenen Woche umgehend versucht, davon zu profitieren. Zuvor hatte sich schon die bislang unbekannte Gruppe »Löwen der al-Mufridun« als Täterin präsentiert, zusätzlich wurde in der Nähe des Tatorts ein Bekennervideo hinterlegt.

Das Schreiben der al-Mufridun, nach Angaben von Jihad Unspun eine marokkanische al-Qaida-Zelle, wurde von den Medien ignoriert. Erst der Bekennerbrief der al-Masri-Brigade an die Tageszeitung al-Quds al-Arabi, die häufig al-Qaida-Botschaften veröffentlicht, erregte die gewünschte Aufmerksamkeit. Das Video zerstreute letzte Zweifel, und dass sich ein Maskierter mit marokkanischem Akzent zu den Anschlägen bekannte, deutet darauf hin, dass eine in Marokko operierende Gruppe des al-Qaida-Netzwerks keinen Zweifel an ihrer Urheberschaft aufkommen lassen will.

Wenn absehbar ist, dass der Chef bald in den Ruhestand versetzt werden wird, beginnt das Gerangel um seine Nachfolge. In Pakistan und Afghanistan haben groß angelegte Militäroperationen gegen die Führung der al-Qaida begonnen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in den kommenden Monaten zwei Posten vakant werden. Al-Qaida bedürfte einer neuen Identifikationsfigur, die Ussama bin Laden als Ikone des Terrors ersetzt. Wichtiger noch ist ein stragegischer Denker, der wie Ayman al-Zawahiri die politischen Vorgaben für den globalen Jihad entwickeln kann.

Bin Laden und Zawahiri verdanken ihre unangefochtene Autorität unter islamistischen Extremisten den Anschlägen vom 11. September 2001, und wer jetzt mit besonders spektakulären Massenmorden und politischen Erfolgen auf sich aufmerksam macht, hat die besten Chancen, als Nachfolger anerkannt zu werden. Der marokkanische Ableger der al-Qaida, der auch für die Anschläge in Casablanca im Mai 2003 verantwortlich ist, könnte dem Netzwerk zudem helfen, seine soziale Basis auszuweiten. Die Kader der al-Qaida stammen fast ausschließlich aus der Mittel- und Oberschicht, nur in Marokko gelang es, eine größere Zahl von Slumbewohnern zu rekrutieren. Offenbar kooperiert die marokkanische Zelle mit einer größeren Fraktion, die sich unter dem Namen al-Masri-Brigade zu Wort meldet.

Die interne Struktur der al-Qaida ist jedoch schwer durchschaubar. Sicher ist, dass zwischen den Gruppen des Netzwerks seit Mitte 2003 eine kontroverse Strategiedebatte geführt wird. Umstritten ist unter anderem, ob Anschläge auf »Juden und Kreuzfahrer« Vorrang vor dem Kampf gegen die »unislamischen« Herrscher des Nahen und Mittleren Ostens haben sollen und ob der Versuch sinnvoll ist, im Irak einen konfessionellen Bürgerkrieg herbeizubomben.

Die al-Masri-Brigaden haben sich von den Anschlägen auf Schiiten im Irak distanziert. In einem dem jordanischen Islamisten Abu Musab al-Zarqawi zugeordeten Brief dagegen heißt es: »Unser Kampf gegen die Shia ist der Weg, die (islamische) Nation in die Schlacht zu führen.« Zarqawi orientiert sich am Wahabismus, der Staatsdoktrin Saudi-Arabiens, die in den Schiiten nicht nur Abweichler, sondern Ungläubige sieht. Er gilt als derzeit wichtigster Führer der Jihadisten im Irak, ihm werden enge Verbindungen zur al-Qaida-Führung nachgesagt.

Zarqawi vertritt das klassische al-Qaida-Konzept, durch exemplarische Gewalttaten einer elitären Avantgarde eine Polarisierung der islamischen Gesellschaften zu erzwingen. Andere Fraktionen der al-Qaida befürworten offenbar die Strategie eines »islamistischen Volkskrieges«, der auch die Unterschichten mobilisieren soll und nach realpolitischen Erfolgen strebt, die für eine weitere Rekrutierung genutzt werden können.

Das dürfte den Versuch einschließen, mit weiteren Anschlägen in Europa die »Koalition der Willigen« zu sprengen. Sie sind jedoch nur Mittel im Kampf um die Hegemonie in der islamistischen Szene und den islamischen Staaten. Unter diesen hält die al-Masri-Brigade offenbar den Jemen für den schwächsten. Die Gruppe hat angekündigt, dieses Land neben dem Irak und Afghanistan zum »dritten Sumpf« zu machen, in dem »Amerika, der Tyrann der Epoche«, versinken soll.