Der aufgelöste Kern Europas

Die Anschläge in Madrid haben die politischen Konstellationen in der Europäischen Union verändert. Die EU will sich nun noch stärker als neue Ordnungsmacht im Nahen und Mittleren Osten profilieren. von anton landgraf

Eine Woche genügte, um Europa zu verändern. »Wir haben dem spanischen Volk die Wahl zwischen Krieg und Frieden gelassen«, heißt es in einer Erklärung, die vergangene Woche in der arabischen Zeitung El Kuds el Arabi veröffentlicht wurde. Das Volk habe sich für den Frieden entschieden, indem es die Partei gewählt habe, »die gegen die Allianz mit den USA in ihrem Krieg gegen den Islam war«. Die Autoren empfehlen großzügig, zunächst von weiteren Massakern in Spanien abzusehen. Dafür könnten ähnliche Anschläge in Großbritannien, Italien oder Polen folgen, denn auch in diesen Ländern ist die Irakpolitik der Regierung unpopulär, auch dort könnte die Stimmung schnell kippen.

Mit einem Schlag haben die islamistischen Gotteskrieger einen Machtkampf entschieden, der seit dem Irakkrieg die EU dominierte.

Vor einem Jahr formierte sich an den Rändern der EU eine deutliche Opposition gegenüber der drohenden deutsch-französischen Hegemonie. Die spanischen Konservativen schlossen sich ebenso wie die polnische Regierung dem Bündnis mit Washington an. Beide Länder versprachen sich davon auch entscheidende Vorteile bei den Machtkonflikten in der Union. Eine gemeinsame Außenpolitik mit der neuen Führungsmacht der osteuropäischen Beitrittsländer, so hoffte die spanische Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten José Maria Aznar, erlaube auch mehr Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten. So scheiterte Ende 2003 die Verabschiedung der europäischen Verfassung an dem spanisch-polnischen Veto; kurz darauf träumte Aznar bei einem Besuch in Warschau von einer »spanisch-polnischen Achse«.

Der Traum ist aus. Die Trennung zwischen dem alten und dem neuen Europa existiert seit dem Massaker in Madrid nicht mehr. Kerneuropa ist passé.

Bereits einige Wochen zuvor verabschiedete sich auch der deutsche Außenminister Joseph Fischer von dem Konzept, wenn auch aus anderen Motiven. »Die klein-europäischen Vorstellungen teile ich nicht mehr«, erklärte er Ende Februar der Berliner Zeitung. Die Konflikte in der Welt seien nur noch zu beherrschen, wenn man in »kontinentalen Größenordnungen« handeln könne, da seit dem 11. September die »europäische Einigung eine strategische Dimension« erhalten habe.

Schon bei dem gemeinsamen USA-Besuch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte Fischer erklärt, es gehe nicht nur darum, den Nahen Osten zu stabilisieren, sondern auch zu modernisieren. Selbst bei den Neokonservativen im Weißen Haus erntete seine Rede großen Zuspruch, glaubten sie doch, dass sich nun auch Fischer für ihr Projekt einer umfassenden Demokratisierung der arabischen Welt erwärmen konnte.

Ein Missverständnis, wie sich spätestens nach den Anschlägen von Madrid herausstellte. Deutschland und Frankreich interessieren sich zwar tatsächlich für diese Region. Aber während die USA nun versuchen, dem islamistischen Terror militärisch zu begegnen, setzt Europa andere Prioritäten. »Wir müssen die Wurzeln des Terrorismus bekämpfen«, verkündeten der französische Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Schröder vergangene Woche. Und dafür sei es »fundamental wichtig, Armut und Unterdrückung zu überwinden«.

Schon seit Jahren betreibt die EU umfangreiche Assoziierungsabkommen mit den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers. Seit kurzem haben sich die Beziehungen zu Lybien deutlich verbessert, auch die Türkei hat mittlerweile gute Chancen, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Unentwegt betont Fischer, dass die Union nach dem Beitritt Zyperns beinah direkte Grenzen mit Israel unterhalten werde.

Damit könnte eine europäische Einflusszone geschaffen werden, die von Marokko über den Nahen Osten bis nach Istanbul reicht. Und mit dem »größeren Mittleren Osten«, insbesondere mit Irak und Iran, entstünde eine zumindest mittelbare Nachbarschaft.

Aber für die Anbindung dieser Region mit Hilfe von Sicherheitsabkommen und wirtschaftlicher Mitwirkung bedarf es auch der aktiven Unterstützung der südlichen Mitgliedsstaaten, vor allem Spaniens und Italiens. Eine Aufnahme der Türkei ist wiederum erst möglich, wenn es gelingt, die osteuropäischen Beitrittsländer zu integrieren. Und die erwünschte »kontinentale Rolle« Europas kann nur funktionieren, wenn es außenpolitisch geeint diese Strategie verfolgt.

Der Kurswechsel der spanischen Regierung muss daher den europäischen Führungsmächten wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein. Es ist kein Zufall, dass Bundeskanzler Schröder vergangene Woche selbstbewusst einen deutschen Sitz im Uno-Sicherheitsrat verlangte und der französische Außenminister Dominique de Villepin von US-Präsident George W. Bush »eine Selbstreflexion« einforderte. »Wir können nicht übersehen, dass es zwei Krisenherde gibt, welche den Terrorismus in der Welt nähren: der Nahe Osten und der Irak«, fügte er hinzu. Die Union empfiehlt sich als neue Ordnungsmacht für die Region und als Alternative zu den USA.

Tatsächlich bröckelt nach den Anschlägen die »Koalition der Willigen«. Der neue spanische Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero kündigte sofort nach seiner Wahl das Bündnis mit den USA und erklärte, die spanischen Truppen würden so bald wie möglich abgezogen. Einige Tage später zog dann auch das südkoreanische Verteidigungsministerium sein Angebot zurück, Truppen in den Nordirak zu schicken. Selbst Honduras will seine 370 Soldaten zurückziehen, Guatemala und El Salvador wollen folgen.

Dem polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski blieb daher nichts anderes übrig, als sich dem anzuschließen. Prompt stellte er einen Abzug polnischer Soldaten aus dem Irak in Aussicht. Schließlich steht die polnische Regierung in der EU ohne ihren einstigen südlichen Verbündeten ziemlich einsam da. Ihre Irakpolitik ist unpopulär, in den aktuellen Umfragen dümpelt sie gerade mal bei neun Prozent. Selbst die Konflikte um die europäische Verfassung, in Warschau im vergangenen Jahr noch zu einer Frage der nationalen Ehre stilisiert, sind nun kein Problem. Die Idee einer doppelten Mehrheit sei »eine wichtige und interessante Idee«, sagte Außenminister Wlodzimierz Cimoeszewicz vergangene Woche der Financial Times Deutschland.

Die Regierung in Washington reagierte indes entsetzt auf das Abrücken der wichtigen europäischen Verbündeten und versuchte gleichzeitig zu beschwichtigen. Bush warnte am vergangenen Freitag in einer Rede zum Jahrestag des Irakkrieges vor einer neuen »Appeasement-Politik« und rief die Europäer zur Geschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus auf. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen alten und bewährten Freunden gehörten der Vergangenheit an, meinte er optimistisch.

Denn dass islamistische Fundamentalisten dauerhaft die europäische Politik bestimmen und Wahlen mitentscheiden, daran dürfte auch Paris und Berlin kaum gelegen sein. So beschlossen am vergangenen Freitag die EU-Innenminister in Brüssel einige Sofortmaßnahmen gegen den Terrorismus. Dazu gehören ein Sonderbeauftragter, der die Maßnahmen der einzelnen Mitgliedsstaaten koordinieren soll, sowie ein besserer Informationsaustausch zwischen den Geheimdiensten.

Schließlich lassen die Gotteskrieger keinen Zweifel daran, dass ihr Krieg weitergehen wird. »Ihr liebt das Leben und wir den Tod«, heißt es in Anlehnung an die Parole der spanischen Faschisten aus den dreißiger Jahren in ihrem Bekennerschreiben zu den Anschlägen in Madrid.