»Zuschauer darf man nie unterschätzen«

Marcel Reif

Der Sportjournalist Marcel Reif, 53, gilt als einer der kenntnisreichsten Fußballexperten in Deutschland. 2002 erhielt er den Deutschen Fernsehpreis, 2003 wurde er mit dem renommierten Grimme-Preis ausgezeichnet. In seiner jetzt vorgelegten Autobiografie »Aus spitzem Winkel« schreibt Reif zum ersten Mal über Privates. Geboren wurde er 1949 im polnischen Walbrzych (Waldenburg) als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter. 1956 emigrierte die Famile nach Israel und kam 1958 nach Deutschland. Mit Marcel Reif sprach Olaf Neumann.

Als Kind lebten Sie mit Ihren Eltern einige Zeit in Israel. In Ihrem Buch sprechen Sie von einer traumatischen Erfahrung, denn da Sie kein Hebräisch konnten, gab man Ihnen zu verstehen, fehl am Platz zu sein. Hatten Sie da schon beschlossen, dass die Sprache Ihre Zukunft sein soll?

Ich glaube schon. Einem Sechsjährigen ist natürlich nicht bewusst, dass er da ein Defizit hat. Er leidet einfach nur. Das hat traumatisierende Folgen. Als wir nach Deutschland kamen, wurde ich in die erste Schulklasse gesteckt als Neunjähriger! Ein Gefühl, als ob man in die Steinzeit zurückgebombt wird. Mein Selbstbewusstsein war gleich null. Dann habe ich aber richtig Gas gegeben und die zweite Klasse übersprungen.

Gleichzeitig fingen Sie in der D-Jugend des 1. FC Kaiserslautern an.

Das FCK-Trikot durfte jedenfalls nicht jeder anziehen. Ich habe sofort gespürt, dass Fußball in Kaiserslautern unmissverständlich etwas Besonderes ist. Das war eine eigene Welt, in der man sich über Fußball definierte.

In den siebziger Jahren waren Sie ZDF-Korrespondent in London. 1984 wechselten Sie von der Politik- in die Sportredaktion. Sportjournalismus erschien Ihnen damals redlicher. Wie gehen Sie damit um, dass die Berichterstattung heute immer mehr in den Boulevard abgleitet?

Boulevard war für mich nie ein Schimpfwort, an sich müsste er sogar eine der höchsten Kunstformen sein. Armselig ist er nur in den Ausprägungen. Aber gerade Sport wäre in einem guten Boulevardjournalismus prima aufgehoben: nicht zu viel Wissenschaft und Philosophie, aber auch nicht zu platt. Das Publikum, das wir uns erzogen haben, erwartet heute allerdings manches gar nicht mehr anders. Trotzdem darf man die Zuschauer nicht unterschätzen, es gibt viele, die trotz allem ganz normal geblieben sind und eine langsamere und ruhigere Gangart bevorzugen. Wenn wir uns daran erinnern, wird das nicht zum Nachteil der Sportberichterstattung gereichen.

Manche Kritiken strotzen vor Häme. Muss das sein?

Zynismus und Häme sind menschenverachtend. Sollte ich mich dabei ertappen, macht es mir richtig zu schaffen. Zu meiner Sprache gehört ein gewisses Maß an Ironie, vor allem auch Selbstironie. Da man mich schon so lange lässt, gehe ich davon aus, dass es die Menschen nicht stört. Mich ärgert es immer, wenn jemand noch nie gegen einen Ball getreten hat und sich dennoch sehr dezidiert zu einer vermeintlichen Fehlleistung äußert. Die Akteure haben einen Anspruch darauf, dass mit ihnen anständig umgegangen wird. Da sie aber öffentlich spielen, muss ich Kritik aussprechen dürfen. An dem derzeitigen Rummel um Oliver Kahn lässt sich vieles festmachen. Eine Boulevardzeitung hat ihn zum »Titanen« erklärt. Mit diesem Begriff kann ich gar nichts anfangen. Fakt ist: Kahn, der Weltklassetorwart, hatte neulich im Spiel gegen Real Madrid einen Anfängerfehler gemacht. Damit schadete er der Mannschaft sehr, er litt sicherlich am meisten darunter. Ich wünschte ihm so viel Distanz, dass er das Ganze nicht selber als Sturz eines Titanen empfindet. Als ich aber hörte, dass Kahn das Rückspiel allein gewinnen wollte, merkte ich, wie tief er schon in dieser Falle steckt.

Im Laufe Ihrer Karriere haben Sie es mit einigen Bundesligatrainern zu tun gehabt. Wer war der Pflegeleichteste?

Trapattoni war zum Beispiel einer, mit dem man ganz in Ruhe über Fußball reden konnte. Ganz ohne Häme, Fingerzeige oder sachfremde Kampagnen. Auch mit Ottmar Hitzfeld ist es immer sehr angenehm. Der mit Sicherheit Pflegeleichteste ist aber Beckerbauer. Er schwebt über den Dingen, das macht den Umgang mit ihm sehr leicht. Grundsätzlich würde ich von niemandem etwas einfordern, damit verletze ich eine Intimsphäre. Wenn ein Trainer über gewisse Dinge nur intern sprechen möchte, dann respektiere ich das. Manchmal will ich das auch gar nicht hören.

Trauen Sie Werder Bremen in dieser Saison die Deutsche Meisterschaft zu?

Vieles spricht dafür. Weil einfach alles stimmt. Da ist nichts zufällig, es ist auch keine glückliche Phase. Der Erfolg von Werder Bremen lässt ganz klar ein System erkennen. Aus dem gleichen Grund ist Bayern München notorisch ganz weit oben.

Diese Qualität erreichen heute nur noch wenige Mannschaften. Droht die Bundesliga nicht an Attraktivität zu verlieren, wenn immer dieselben siegen?

Dass die Schere immer mehr auseinander geht, ist natürlich eine Gefahr für den Fußball insgesamt. In England, Spanien und Italien ist es mittlerweile auch nicht anders. Daran lässt sich leider nichts mehr ändern. Wir können nur hoffen, dass mehr Vereine Grund unter die Füße kriegen, wie mit dem VfB Stuttgart geschehen. Oder man geht auf das amerikanische System über. Dort gibt es keinen freien Markt, jeder Club ist gleich gut ausgestattet, der Tabellenletzte hat das Recht, den ersten Spieler auf der Angebotsliste zu kaufen. Abstieg ist unmöglich. Das will ich mir aber gar nicht erst vorstellen.

Sie behaupten, im Umgang mit dem Fußball fehlt den Deutschen die Leichtigkeit. Woran machen Sie das fest?

Es ist alles so schrecklich ernst hier. Das liegt wohl in der Natur des Globus. Italiener sind besoffen vor Glück, wütend oder traurig, aber niemals so schwerblütig wie wir Deutschen. Es würde so vieles erleichtern, wenn man auch hierzulande öfter mal schreit und tobt oder in ein Glas Bier heult. Fußball ohne kindliche Emotionen ist für mich eine Perversion. Der Begriff »kindisch« ist ja eigentlich negativ besetzt. Aber nur hier treffe ich mich mit meinem Sohn auf einer Stufe. Wenn ich diese kindische Begeisterung nicht mehr spüre, wird es Zeit, mich zu verabschieden.

Im Fernsehen gibt es einen Hang zum Gigantismus: immer mehr Kameras, immer mehr Technik. Müssen die Moderatoren dieser Entwicklung trotzen?

Verbal kann man dem kaum etwas entgegensetzen. Wenn der Zug abfährt, ist man gefangen und muss die Bilder beschreiben, die da sind. So viel Respekt vor dem Zuschauer muss schon sein. Wichtig ist, dass man sich diese Entwicklung vorher klar macht und im Umfeld darüber diskutiert. Schon bei RTL war ich an verschiedenen Entwicklungen beteiligt. Am Ende sind wir einen Schritt zurückgegangen. Heute hilft die normative Kraft des Ökonomischen bei der Abrüstung. Wir haben alle unser Spielzeug gehabt. Dass wir wieder auf ein normales Maß zurückgekommen sind, tut der Sache gut. Hier ist ein Fehler passiert.

Der palästinensische Fußballverband will 2006 an der WM teilnehmen. Die 18 begabtesten Spieler trainieren zurzeit mit Alfred Riedel, dem ehemaligen österreichischen Nationalcoach, in Köln. Glauben Sie, dass ein erfolgreiches Abschneiden der Palästinenser eine positive Auswirkung auf den Konflikt in Israel haben könnte?

Fragen Sie mal Zeitzeugen, welche Bedeutung der Weltmeistertitel für die Deutschen 1954 hatte. Bis dahin durfte Deutschland nicht auf internationaler Bühne mitspielen. Das war mehr als nur ein Sieg. Der Fall Palästina ist noch extremer. Wenn ein Volk, das sich vor allem selbst finden und zudem noch auf dieser Welt zurechtfinden will, plötzlich einen internationalen Erfolg feiert, schafft das Selbstbewusstsein. Und selbstbewusste Menschen neigen weniger zu sinnloser Gewalt.