Nicht mehr nur gegen Israel

Die neue Linke im Libanon bricht mit alten Tabus und kritisiert die syrische Besatzungsmacht. Sie will sich als Partei jenseits des konfessionellen Systems konstituieren. von hannah wettig, beirut

Polizei und Armee hatten alle Hände voll zu tun. Gleich drei Demonstrationen galt es am Mittwoch der vergangenen Woche in Beirut auseinanderzuprügeln. An zwei Orten protestierten Gewerkschafter gegen Steuererhöhungen und das neue Budget, während überwiegend rechte christliche Demonstranten die Freilassung in Syrien inhaftierter Libanesen forderten.

»Unser Protest hat nichts mit der regionalen Situation zu tun«, sagt der Gewerkschafter Castro Abdullah. Viele Libanesen sehen nicht mehr ein, dass die Verbesserung der sozialen Lage dem Kampf gegen Israel unterzuordnen sei. Und nicht nur die christliche Rechte wendet sich aggressiver gegen die syrische Besatzungsmacht.

Die Syrer müssen raus aus dem Libanon, das war die klare Botschaft der ersten Erklärung, die die Bewegung für eine demokratische Linke am 4. Februar in der größten libanesischen Tageszeitung, al-Nahar, veröffentlichte. Die Gruppierung besteht aus ehemaligen Mitgliedern der Kommunistischen Partei, Studentengruppen und unabhängigen Linken. Sie hat gerade erst zwei Formierungstreffen abgehalten, will aber im Laufe des Jahres eine Partei gründen.

Nun hat sie gleich ein Tabu gebrochen. In den alten linken Parteien, der kommunistischen, den nasseristischen und den arabisch-nationalistischen, galt das Diktum, dass keine Stimme außer der Stimme des Kampfes gehört werden soll. Der Kampf, das ist der Kampf gegen Israel. Solange Israel sich nicht von den libanesischen Shebaa-Farmen zurückgezogen hat, dem syrischen Golan, der Westbank und Gaza, soll niemand kritisiert werden, der sich am Kampf beteiligt.

Diese Auffassung hat jahrzehntelang die arabische Linke gelähmt und es Regimen in der Region leicht gemacht, ihre Bevölkerungen im Namen des Kampfes zu unterdrücken. Obgleich der Libanon keine Diktatur ist, gilt auch hier: Wer die Regierung zu sehr kritisiert, wie jüngst der Chef des privaten Fernsehsenders NTV, wird schnell der Spionage für Israel bezichtigt.

Das libanesische System ist eine Konfessionsdemokratie. Jede der 19 offiziellen Konfessionen muss im Parlament zu einem gewissen Prozentsatz vertreten sein, festgelegt 1989 im Friedensvertrag von Taif, der den 15 Jahre währenden Bürgerkrieg beendete. Wichtige Posten gehen an die größten Konfessionen, der Premierminister muss sunnitischer Muslim sein, der Präsident maronitischer Katholik und der Parlamentssprecher schiitischer Muslim. Drusen und Griechisch-Orthodoxe erhalten wichtige Ministerien.

Meist werden in diesem System Clanchefs gewählt. Politische Parteien können sich nur behaupten, wenn sie eine feste Basis in einer Konfession haben, wie die Partei des Progressiven Sozialismus des ermordeten Drusenführers Kamal Jumblatt und die Phalange des Maroniten Pierre Gemayel, die sich an faschistischen Parteien in Europa orientiert hat.

Die syrische Regierung beaufsichtigt die Wahllisten. »Wenn ein Kandidat zu kritisch ist, wird er vom Militär so lange unter Druck gesetzt, bis er zurücktritt«, sagt Hassan Krayem, Professor für Politologie an der Amerikanischen Universität in Beirut und Mitbegründer der Bewegung für eine demokratische Linke.

Die neue Linke wirft Syrien vor, den linken Widerstand gegen Israel im Bürgerkrieg ausgeschaltet und stattdessen den Aufbau der Hizbollah unterstützt zu haben. Als die Israelis 1982 Beirut besetzten und die christliche Phalange dazu anhielten, in den palästinensischen Flüchtlingslagern »aufzuräumen«, gab es die Hizbollah noch nicht. Die PLO war in die Lager im Norden Libanons abgezogen, nach Verhandlungen zwischen Israel und Syrien. So waren es die Progressiven Sozialisten, die Kommunistische Partei sowie kleinere kommunistische und sozialistische Gruppen, die gegen die Phalange und Israel kämpften.

Doch wenn heute der Widerstand gegen Israel offiziell gewürdigt wird, dann ist damit immer nur die Hizbollah gemeint. Das war auch so beim Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hizbollah im Januar dieses Jahres. Linke Gruppen waren von der Willkommenszeremonie am Beiruter Flughafen ausgeschlossen, obwohl einer der Gefangenen Mitglied der Kommunistischen Partei war.

Für die Bewegung für eine demokratische Linke war es der Anlass, ihren Ärger über Syrien auszudrücken. »Die Ausschaltung der Linken vom Austauschprozess und dem Empfang der Gefangenen sollte als Teil einer Entscheidung gesehen werden, die die syrische Regierung vor 20 Jahren im Libanon getroffen hat«, heißt es in ihrer Erklärung. Sie seien 1984 die effektivste Widerstandskraft gewesen, schreiben die Autoren, doch Syrien habe sie mehr und mehr unter Druck gesetzt, sich für die Libanesen bestimmte Waffen aus der Sowjetunion selbst angeeignet und 18 Genossen ermordet. Nach dem Bürgerkrieg sei die Linke von politischer Partizipation ausgeschlossen worden.

Tatsächlich sind sich viele Historiker einig, dass der damalige syrische Präsident Hafez al-Assad die in den siebziger Jahren sehr starke libanesische Linke als Gefahr für sein eigenes Regime ansah und sich deshalb schon zu Beginn des Krieges kurzzeitig auf die Seite der Phalange stellte.

Es ist nicht das erste Mal, dass Mitglieder der neuen Linken Syrien für den Mangel an Demokratie verantwortlich machen. Doch war diese Kritik nie so deutlich und offen. Der Widerstand gegen die syrische Besatzung war bisher Sache der rechtsnationalistischen Christen, deren Demonstrationen, Zeitungen und Fernsehsender deswegen regelmäßig verboten oder bedroht werden.

Darum sagt Ziad Saab, Mitinitiator der neuen linken Bewegung und ehemaliger Kader der Kommunistischen Partei: »Natürlich habe ich Angst. Aber auch in Syrien verändern sich die Dinge. Letztens hatten sie dort sogar eine Demonstration vor dem Regierungsgebäude, und die Demonstranten sind nur ein paar Stunden verhört und wieder freigelassen worden.«

Vor einem Jahr schlossen sich linke Studentengruppen und unabhängige Aktivisten zu einem Bündnis gegen den Krieg im Irak zusammen. Ihr Motto: »Kein Krieg! Keine Diktaturen!« Heute sind diese Gruppen über die Einschätzung der Nachkriegsentwicklung zerstritten. Die einen heißen den Widerstand gegen die Besatzung in jedem Fall gut, andere sind für ein UN-Mandat, und wieder andere setzen sich für die Rechte der irakischen Frauen ein. Die Diskussionen darüber sind heftig. Als zwei Iraker sich auf einer Mailingliste für ein UN-Mandat stark machen, wird dem einen vorgeworfen, dass sein Vater Villen in Bagdad besitzt, der andere wird für besoffen erklärt.

Auch in Bezug auf Israel ist man sich nicht einig. So sagt zum Beispiel Simon Assaf, der bei der Zeitung al-Yasaari (Die Linke) mitmacht: »Das Problem mit Israel ist nicht so sehr ein Problem mit Israel, sondern eines mit den arabischen Regimen. Die Palästinenser haben genauso in Jordanien, Syrien oder Libanon gelitten wie in Israel.«

Im Libanon leben die meisten der rund 350 000 Palästinenser immer noch in Lagern. Sie haben keine Staatsangehörigkeit, nur einen Flüchtlingsstatus. Sie dürfen nicht als Ärzte, Rechtsanwälte oder Ingenieure arbeiten; insgesamt sind ihnen 72 Berufe verboten. Seit Neustem dürfen sie auch kein Eigentum an Immobilien erwerben.

Dania (Name von der Redaktion geändert) ist Palästinenserin, hat aber bis vor einem Jahr nie ein anderes Land gesehen als den Libanon. Im letzten Sommer wurde sie zu einem Treffen mit Aktivisten aus dem Nahen Osten und Europa in Spanien eingeladen. »Mit den Israelis rede ich aber nicht«, sagte sie vor der Abreise. Als sie wiederkam, schlug sie auf einem Treffen vor, ein No border camp an der Grenze gemeinsam mit den Genossen aus Israel zu organisieren. Einige haben gelacht, einer hat gesagt, dass sie einen Knall hat. Eine Frau hat gedroht, nicht mehr mit ihr zu reden.

Diese Uneinigkeit könnte auch in der neuen Bewegung zum Problem werden. Schon bei dem dritten Treffen in Beirut gab es Zoff. Zwar ist man sich in Bezug auf Syrien im Prinzip einig, aber die Erklärung wurde ohne die Zustimmung aller verfasst. »Das ist doch wieder genau das gleiche wie in der Kommunistischen Partei«, sagt Raida Hatoum, Mitarbeiterin von al-Yasaari, nach dem Treffen. »Die ersten Treffen waren großartig. Jeder hat von seinen Träumen gesprochen, was wir uns für eine Bewegung wünschen.« Nun glaubt sie, dass die alten autoritären Strukturen wieder Einzug halten. Zudem findet sie die Erklärung rückwärts gewandt. »Sie ist eine Reaktion auf die Unfähigkeit der Kommunistischen Partei. Mir ist aber die Partei egal.«

Saab weist diese Kritik von sich. »Ich rede nicht über die Partei. Ich rede über die Gesellschaft.« Er hat die Erklärung mitverfasst und stimmt nicht mit der Kritik der jungen Genossen überein. »Aber ich finde es gut, dass sie eine Gegendarstellung geschrieben haben. Das ist genau der demokratische Geist, den wir wollen.«

Wie genau demokratische Prozesse gestaltet werden sollen, ist noch nicht klar. Bisher gibt es mehrere Gruppen, zwei in Beirut, zwei im Süden Libanons, eine im Norden. Dort wird mehr oder weniger im Konsensverfahren entschieden. Was passiert, wenn die Treffen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist nicht geregelt. »Darum brauchen wir eine Partei, um eine Struktur zu haben. Gewählt werden können wir in diesem System sowieso nicht«, sagt Saab.

Bis zum ersten gemeinsamen Kongress sollen aber auch nur die Grundsätze der Bewegung feststehen, und sie sind in einem Diskussionspapier recht weit gefasst: Unabhängigkeit (von Syrien), Demokratie, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit.