Juden aus Palästina

Die Beziehungen zwischen Europa und Israel sind gestört. von eldad beck

Ein paar Stunden nach den blutigen Terroranschlägen in Madrid am 11. März sprach ich mit einem israelischen Freund, der in Spanien lebt, um mir ein Bild von der dortigen aktuellen Situation machen zu können. »Du wirst sehen«, sagte er mir am Ende des Gesprächs, »früher oder später werden wir, die Israelis, für diese Aktionen verantwortlich gemacht«.

Kaum zwei Wochen danach erschien in der Financial Times Deutschland ein Kommentar des Brüsseler Korrespondenten der Zeitung, in dem man lesen konnte: »Der Respekt vor den Opfern des Holocaust hat es uns verboten, Israels Regierungen mit denselben Maßstäben zu messen wie andere westliche Regierungen. Politische oder ökonomische Sanktionen gegen Israel waren deswegen tabu. Doch der Holocaust«, schrieb der Journalist Thomas Klau weiter, »der die Existenz des jüdischen Staates für alle Zeiten legitimiert hat, war ein deutsches und europäisches Verbrechen, und die Palästinenser, die heute unter seinen Folgen leiden, sind daran unschuldig. Wir haben die Siedlungs- und Besatzungspolitik der israelischen Regierungen toleriert und die Palästinenser den Preis dafür zahlen lassen. Das hat in der arabischen und muslimischen Welt einen Hass groß werden lassen, der am 11. September 2001 und am 11. März auf uns zurückgeschlagen hat.«

Mein israelischer Freund in Spanien ist kein Prophet. Er lebt zurzeit in Europa und konnte genauso wie viele andere Israelis beobachten, wie seit Beginn der zweiten Intifada die Beziehung Europas zu Israel vergiftet ist und wie Israel systematisch verteufelt und für alle Probleme der Menschheit verantwortlich gemacht wird. Denn Thomas Klau äußerte keine persönliche Meinung, sondern eine, die im heutigen Europa sehr verbreitet ist. Israel hat den »traditionellen« Platz der Juden als »Wurzel aller Bosheiten« eingenommen. Und so konnte der Vertreter der PLO in London, Afif Safieh, Ende Mai auf einer von der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin organisierten Konferenz erklären, dass er als »indirektes Opfer Hitlers die Deutschen von jedem Schuldgefühl gegenüber der Vergangenheit befreit«, ohne dass irgendjemand darauf reagierte. Werden wir bald auch hören, dass die Vergangenheit nicht so schlimm war und vielleicht auch im Licht der »Politik der israelischen Regierungen« verständlich ist?

Die Beziehungen zwischen Europa und Israel haben in den letzten drei Jahren einen historischen Tiefpunkt erreicht. Es geht nicht mehr nur um kleine Schwierigkeiten, sondern um eine ernste Krise. Könnte man diese Krise erklären, ohne die Geschichte in Erinnerung zu haben? Ich glaube es nicht.

Die Geschichte beginnt lange vor dem Zweiten Weltkrieg, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das heilige Land Teil des ottomanischen Reiches war. Es war eine Zeit, in der kaum jemand im Nahen Osten das Wort »Palästina« kannte und in der Jerusalem eine verlassene Stadt war, die in Ruinen und Schmutz lag. Vom moslemischen Heiligtum war zu dieser Zeit keine Rede.

Der Terminus »Palästina« wurde nur von den Europäern benutzt, als sie begannen, Interesse für diese Region der Welt zu entwickeln. Man suchte einen Namen für das heilige Land, und weil die Interessenten Christen waren, kam der Terminus »das Land Israel« – wie es in der Bibel genannt wurde – nicht in Frage, trotz der Tatsache, dass viele Europäer dachten, es sei nicht schlecht, wenn man die Juden wieder in dieses weite Land schicken könnte. Daher suchte man einen Namen aus, der von den Römern gebraucht wurde, »Palästina«.

Auf Arabisch erscheint der übersetzte national-politische Terminus »Falastin« nur im 20. Jahrhundert. Denn es gab niemals einen unabhängigen arabischen Staat in »Palästina«. Vertreter der arabischen Bevölkerung dieses Landes erklärten 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz: »Wir betrachten Palästina als Teil des arabischen Syriens, von dem es zu keiner Zeit getrennt war.« Der Abgeordnete des Obersten Arabischen Komitees der Uno sagte 1947 vor der Vollversammlung, dass Palästina Teil der Provinz Syriens war und »die in Palästina ansässigen Araber in politischer Hinsicht nicht in dem Sinn unabhängig waren, dass sie ein eigenständiges politisches Gebilde darstellen«.

Die Juden waren die einzigen, die sich für »Palästina« interessierten, und bekamen dafür Unterstützung von den Briten. Aber sofort nachdem die Briten das Land erobert hatten, begann sich deren Position zu wandeln. Der Plan zur Teilung »Palästinas« gab den Arabern 80 Prozent des Territoriums und des Mandats über das Land Palästina, das heute zu Jordanien gehört. Wenn die Palästinenser sich heute darüber beschweren, dass die Juden 80 Prozent des »historischen Palästina« kontrollieren, stellt sich die Frage, von welchem »historischen Palästina« sie überhaupt sprechen. Es handelt sich um eine Lüge, die in Europa verbreitet und wahrgenommen wird. Wieso? Nur wegen der allgemeinen Ignoranz?

Im Rahmen ihrer neuen Politik gegenüber »Palästina« begannen die Briten, die jüdische Immigration zu limitieren, gerade als diese mehr als je notwendig geworden war. Die Araber wussten genau über die Verfolgung der Juden in Europa Bescheid. Sie machten aber Druck, die Tür »Palästina« vor den fliehenden Juden Europas zu schließen. Der Mufti von Jerusalem hat die Nazis in ihren Vernichtungsbemühungen sogar offiziell unterstützt.

War der Holocaust nur ein deutsches Verbrechen? Natürlich nicht. Die internationale Gemeinschaft trägt auch große Verantwortung, denn niemand wollte die Juden haben. Wenn die Palästinenser heute behaupten, dass sie die »Opfer« Nazideutschlands seien, weil sie den Preis für die Vertreibung und Verfolgung der Juden aus und in Europa bezahlten, meine ich, dass es eine Lüge ist. Viele »Palästinenser« und Araber standen an der Seite Nazideutschlands. Bis heute werden die Nazis wegen »ihres Kampfes gegen die Juden« von nicht wenigen Arabern und Palästinensern bewundert. Warum verleugnet Europa diese Fakten und verschließt davor die Augen?

Nach dem Verbrechen des Holocaust im Zweiten Weltkrieg gab es keine andere Alternative, als endlich den Juden eine nationale Heimat zu geben. Man hat aber in Europa nie wirklich die Tatsache akzeptiert, dass die Juden in ihrem Staat souverän sein könnten. Sobald Israel begann, seine eigenen Interessen wahrzunehmen und zu verteidigen ohne Rücksicht darauf, was die Europäer dazu zu sagen hatten, wurde die Beziehung der Europäer zu Israel problematischer.

Und so entdeckten die Europäer die »Causa Palästina«. Der Slogan »Juden nach Palästina« wandelte sich zur Redewendung »Juden aus Palästina«. Der Kampf um die Legitimität Israels fing an. Niemand in Europa fragt sich, wo das Existenzrecht Saudi-Arabiens, Libanons, Kuweits, Jordaniens oder sogar Palästinas liegt. Man debattiert aber gern und offen über die Frage, ob Israel – als »künstlicher« Staat in dieser Region – das Recht zu existieren hat oder nicht. Und man beschuldigt Israel, dass es den »Respekt vor dem Holocaust« für politische Zwecke missbrauche. So wird das Opfer zum Täter.

Viele Europäer haben das Gefühl, dass man Israel den Juden als moralische Entschädigung geschenkt habe und man dieses Geschenk Israel wieder wegnehmen könne, wenn sich die »Kinder« Israels nicht gut verhalten. Israel ist ein Staat »auf Bewährung« und Beweise werden gesammelt, um zu zeigen, dass die Israelis das Geschenk nicht verdienen. Nur das kann erklären, warum viele Europäer bei palästinensischen Verbrechen wegsehen und ihre Augen nur auf Israel richten.

Der Grund dafür ist einerseits purer Kolonialismus und andererseits der Wille, die eigene Vergangenheit zu reinigen. Ich behaupte nicht, dass alles, was Israel unternimmt, gut sei. Heute kann man aber auch nicht die Existenz einer neuen palästinensischen nationalen Identität verleugnen, die das Existenzrecht Israels bedroht. Israel ist keine imperialistische Macht, die nur an der Unterdrückung der Palästinenser interessiert ist. Es befindet sich mitten in einem blutigen Krieg, der entscheidend für seine Zukunft ist.

Statt Verständnis für diese schwere Situation aufzubringen, diskutiert man in Europa, wo genau die Grenzen der Kritik an Israel liegen. Aber seit wann darf man in Europa, sogar in Deutschland, Israel nicht kritisieren?

In Wahrheit handelt es sich um die Frage des Rechts Europas, sich in die Angelegenheiten Israels einzumischen. Wenn alle Fraktionen des Bundestags sich erlauben, einen Unterstützungsantrag über die sehr umstrittene Genfer Initiative zur Wiederbelebung der so genannten Road Map anzunehmen, ist das eine inakzeptable Intervention in die inneren Angelegenheiten Israels. Hier ist eine Grenze überschritten. Die Deutschen und Europäer glauben besser zu wissen, was uns Israelis gut oder schlecht tut. Deutschland und Europa haben offensichtlich wenig aus der Geschichte gelernt.

Eldad Beck ist Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung Yediot Ahronot.