Märtyrer im Büßerhemd

An der libanesisch-israelischen Grenze wird wieder geschossen. Will die schiitische Hizbollah eine Internationalisierung ihres Kampfes provozieren? von alfred hackensberger, beirut

Aus den Lautsprechern dröhnt die amerikanische Nationalhymne, unterlegt mit dem Sound von Maschinengewehrsalven. Gleichzeitig wird ein US-Sternenbanner gehisst, das einen in Abu Ghraib gefolterten irakischen Gefangenen mit Kapuze und Elektrodrähten zeigt. So endete Mitte Mai eine von der Hizbollah in Beirut perfekt inszenierte Propagandashow, an der rund 400 000 Menschen teilnahmen. Man wollte ein »symbolisches Zeichen« gegen die Politik in den palästinensischen Gebieten und im Irak setzen.

Die meisten Teilnehmer waren in schiitischen, weißen Büßerhemden erschienen. Diese sollten signalisieren, dass man nun bereit sei, im Kampf gegen Unterdrückung und für die Freiheit zu sterben –, so wie vor 1 300 Jahren Imam Ali in Kerbala. »Heute marschieren wir noch in Märtyrergewändern«, erklärte Generalsekretär Hassan Nasrallah einer begeisterten Menge. »Aber das nächste Mal, wenn uns unsere unterdrückten Brüder um Hilfe bitten, dann kommen wir in Märtyrergewändern und mit Waffen.«

Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren drohte die ansonsten strikt national orientierte Partei, sich in internationale Politik einzumischen. »Normalerweise entscheiden die Iraker ganz alleine, wann, wie und wo sie für die Befreiung ihres Landes kämpfen wollen«, sagte Nasrallah. »Aber wenn es um Kerbala und Najaf, um die heiligen Ruhestätten von Imam Ali bin Abi Taleb und seinem Sohn Imam Hussein geht, sind wir unmittelbar betroffen.« Eine Beschädigung oder gar die Zerstörung der heiligen Stätten wäre für alle Schiiten ein schwerer Schlag. Für die Hizbollah also eine gute Gelegenheit, diese Angst auszuschlachten.

»Die Besatzungsmacht wird für jede Aggression gegen die heiligen schiitischen Stätten bezahlen«, erklärte Nasrallah. Solche Drohungen sind neu, auch wenn sie strategisch ganz auf der Linie der Partei liegen. Wer eine von der Hizbollah definierte Grenze überschreitet, trägt demnach die volle Verantwortung für das, was danach passiert. Nasrallah machte deutlich, dass er jederzeit bereit ist, eine neue Kriegsfront zu eröffnen – und sei es gegen die USA.

Drohungen der Hizbollah besitzen Substanz. Doch man weiß nie so genau, was die »Partei Gottes« wann oder wie in die Realität umsetzt. Nasrallah verhält sich auf der politischen Bühne wie ein Pokerspieler, bei dem man nie sicher ist, ob er blufft oder nicht. Seitdem er 1992 Generalsekretär der Organisation wurde, hat er die Hizbollah von einer ungeordneten Bürgerkriegsmiliz zu einem funktionierenden Parteiapparat umgewandelt. Ein soziales Netzwerk aus Krankenhäusern, Schulen, Frauenorganisationen und Kinderheimen wurde aufgebaut, die Hizbollah sitzt im Parlament, stellt Bürgermeister und Stadträte. 1992 war aus dem Parteiprogramm »die Errichtung einer islamischen Republik Libanon« ersatzlos gestrichen worden.

Außenpolitisch ist der militärische Flügel der Hizbollah von tragender Bedeutung. Die auf 5 000 bis 10 000 Soldaten geschätzte Armee kann mit jeder Elitetruppe der Welt mithalten. Sie ist mit neuesten Waffen und aktuellster Technik aus dem Iran ausgestattet. Bis zu 50 000 weitere Soldaten sind in wenigen Tagen mobilisierbar. Die Militäraktionen der Organisation folgen selten einer kurzfristigen Strategie. Während der israelischen Besatzung beschoss man gezielt zivile Einrichtungen in Israel, im Unterschied zur Flächenbombardierung der israelischen Luftwaffe. In der Folge einigten sich beide Seiten im Jahr 1996 darauf, in Zukunft die Zivilbevölkerung bei Angriffen auszusparen.

Als die israelische Armee im Jahr 2000 aus dem Südlibanon abzog, wurde dies in der arabischen Welt als erster historischer Sieg über Israel gefeiert. Über zehn Millionen Zuschauer waren weltweit »live« via dem der Hizbollah nahe stehenden Satellitenfernsehsender Al-Manar mit dabei.

»Hizbollah hat sich zu einem wichtigen Abschreckungsfaktor für Israel entwickelt und zu einem ›regional player‹, dessen Reaktionen auf regionale Entwicklungen berücksichtigt werden müssen«, besagt eine Studie des Jaffee-Zentrums der Universität von Tel Aviv. Der Guerillakrieg gegen Israel habe das militärische Potenzial der libanesischen Organisation gezeigt. Hinzu kommen die 10 000 Raketen, mit denen die Hizbollah Teile Israels jederzeit beschießen könnte. Dieses Abschreckungsszenario macht die schiitische »Partei Gottes« zu einem ernst zu nehmenden Gesprächs- und Verhandlungspartner. Ein im Januar abgewickelter Gefangenenaustausch gilt als quasi offizielle Anerkennung der Hizbollah durch Israel.

In den vergangenen zehn Jahren verzichtete das israelische Militär auf rigorose Vergeltungsanschläge. Drohungen, Nasrallah zu töten, gab es allerdings gerade in letzter Zeit mehrfach. Aber das dürfte eher zum »Säbelrasseln« gehören, das immer wieder die geheimen Verhandlungen zwischen Israel und Hizbollah begleitet. Alles deutet darauf hin, dass die Gespräche über einen zweiten Gefangenenaustausch seit einigen Monaten wieder stattfinden. Wie bereits vor dem ersten Austausch kommt es dabei zu gegenseitigen Drohungen und Schuldzuweisungen und auch zu Schießereien entlang der von der Uno festgesetzten »Blue Line«.

So wurde jetzt an der israelisch-libanesischen Grenze wieder fleißig hin und her geschossen. Die Hizbollah schoss, weil das israelische Militär die Grenze überschritten hatte. Israel schoss, weil die Hizbollah geschossen hatte, und die Hizbollah schoss, weil die Israelis geschossen hatten. Das übliche Grenzgeplänkel. Faktisch geht es um die Zahl und die Auswahl von Gefangenen. Es gilt das Motto: Wir können auch anders, wenn ihr nicht wollt. Zu einer Eskalation kam es bisher nicht. Der Schaden, der bei den jeweiligen Vergeltungsmaßnahmen entstehen würde, ist allen Beteiligten offenbar zu groß.

Bislang waren die Spielregeln zwischen Israel und Hizbollah nach jahrelangen Erfahrungen geklärt. Durch die aktuellen Vorgänge in den palästinensischen Gebieten und im Irak fühlt sich Nasrallah nun offensichtlich im Aufwind. Der Kampf wird nicht mehr geteilt, denn »die Feinde (USA und Israel, d. Red.) haben die gleiche Doktrin, benutzen dieselben Praktiken und Waffen, begehen dieselben Grausamkeiten. Wir müssen sie zusammen als einen Block bekämpfen«.

Ob es sich bei Nasrallahs Aufrufen zum Kampf nur um hohle Phrasen handelte, ist ungewiss. Selbst wenn die heiligen Stätten in Kerbala und Najaf unbeschädigt bleiben sollten, hat sich der Generalsekretär die Möglichkeit zur Einmischung offen gehalten. Ein für die Hizbollah typisches pragmatisches Vorgehen. Und ein Vorwand lässt sich immer finden, damit die Situation passt.