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Zerfallserscheinungen

Europawahl. Wenn Kinder beim Brennballspiel ihre Teams wählen dürfen, bleiben natürlich immer die Unsportlichsten bis zuletzt stehen. In der Tanzschule geht es ähnlich zu und bis ins hohe Alter so weiter: Die Erfolgreichen finden immer zueinander.

Zwar kann niemand den Erfolg der grünen Partei in Deutschland bei der Europawahl erklären, und das hoffnungslose Unterfangen soll auch an dieser Stelle nicht versucht werden. Fest steht, dass die Grünen für die Union zu einer guten Partie geworden sind. »Schwarz-Grün ist zu einer realistischen Option geworden«, sagte der Vorsitzende der Union, Philipp Missfelder, sich der Attraktivität der eigenen Partei sicher, dem Spiegel. Der Freiburger Bürgermeister Dieter Salomon (Grüne) fragte die Berliner Zeitung kokett: »Warum nicht?«

Im nichteuropäischen Ausland steht vielmehr die Debatte um Europa im Mittelpunkt. Die niedrige Wahlbeteiligung, vor allem in den neuen Mitgliedsstaaten der EU, und die Stimmengewinne solcher Parteien, denen der europäische Einigungsprozess ein Dorn im Auge ist, scheinen manchem schon der Anfang vom Ende des Projekts zu sein. Die israelische Ha’aretz fand bereits nicht näher benannte Experten, die es nicht länger für undenkbar halten, dass »eines Tages ein Land auf die Idee kommen könnte, sich von der Europäischen Union zu verabschieden«.

Jagdsaison eröffnet

Deutschland. Der »gordische Knoten« sei »endlich durchschlagen«, gab der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, dem Handelsblatt glücklich zu Protokoll. Denn nun ist Deutschland beim internationalen Headhunting dabei. »Die besten Köpfe« (Otto Schily, SPD) weltweit könnten nun für den Arbeitsmarkt gewonnen werden, vor allem diejenigen, die »unserer Volkswirtschaft nutzen« (Günther Beckstein, CSU). Am vergangenen Donnerstag einigte sich der Bundesinnenminister mit seinem bayerischen Kollegen sowie dem saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU) auf ein neues Zuwanderungsgesetz. Es soll am 9. Juli im Bundestag und im Bundesrat abgesegnet werden.

Wichtig für die Einigung war die Zusicherung des Bundes von 1,5 Milliarden Euro für Sprachkurse für bereits im Lande lebende Ausländer. Die werden nun integriert, was das Zeug hält. Verweigerung wird bestraft. Wer blau macht, dem soll die Arbeitslosen- oder Sozialhilfe um zehn Prozent gekürzt werden. Und das neue Gesetz kann noch mehr: Es bietet Schutz vor »gefährlichen Ausländern«. Wer dem Verfassungsschutz negativ aufgefallen ist, wird schleunigst abgeschoben.

Terrorist mit Feder

Algerien. Die Nachricht wirkte wie ein Donnerschlag. Am Montag voriger Woche wurde der Chefredakteur einer der größten algerischen Tageszeitungen, Le Matin, zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung und 20 Millionen Dinar (rund 200 000 Euro) Geldstrafe verurteilt. Mit Mohammed Benchicou, der in seiner exkommunistischen Tageszeitung auch die Islamisten scharf angriff, traf es einen der profiliertesten Gegner des Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika. Offiziell wurde ihm vorgeworfen, das Gesetz zur Devisenausfuhr missachtet zu haben. Er hatte Wertpapiere seiner Redaktion im Wert von umgerechnet 110 000 Euro in der Aktentasche, als er im August 2003 am Flughafen von Algier vorübergehend festgenommen wurde.

Die wirklichen Hintergründe sind andere. Erstens hatte Algeriens Innenminister Yazid Zerhouni im Sommer 2003 öffentlich geschworen, er werde Le Matin »bezahlen lassen«. Die Zeitung hatte ihm nämlich vorgeworfen, für die Misshandlung von Häftlingen verantwortlich zu sein. Und zweitens setzte sich Benchicou in diesem Jahr bereits gegen die Wiederwahl des Präsidenten Bouteflika ein und widmete ihm ein Buch mit dem Titel »Bouteflika, une imposture algérienne« (Bouteflika, ein algerischer Schwindel).

Nun scheint die Stunde der Rache zu kommen. Bouteflika hatte vor einigen Monaten erklärt, die »Terroristen mit der Schreibfeder« seien nicht besser als jene mit Gewehr.

Klasse Justiz

Frankreich. Nach 17 Jahren Haft, darunter mehrere in Totalisolation, ist Mitte der vergangenen Woche die seit längerem an einem Gehirntumor erkrankte Gefangene Joëlle Aubron freigekommen. Aubron, die in einer Haftanstalt in Bapaume in der Region von Lille einsaß, hatte in den achtziger Jahren der linksradikalen bewaffneten Gruppe Action Directe (AD) angehört. Nach ihrer Freilassung wurde sie von rund 30 Personen mit rot-schwarzen Fahnen empfangen.

Weitere Häftlinge der AD sind ebenfalls seit 17, einer seit 20 Jahren inhaftiert. Der nicht mehr existierenden Gruppe wird u. a. vorgeworfen, in den Jahren 1985 und 1986 den französischen General René Audran sowie den Generaldirektor von Renault, Georges Besse, getötet zu haben. Mehrere der Häftlinge, die lange Jahre in Isolationshaft verbracht haben, sind schwer erkrankt. Nathalie Ménigon etwa ist halbseitig gelähmt. Ihre Freilassung aus gesundheitlichen Gründen, die nach einem Gesetz aus dem Jahr 2002 prinzipiell möglich wäre, wurde Anfang April dieses Jahres abgelehnt. Am Vortag hatte der ehemalige Vorstandschef des Konzerns Elf-Aquitaine, Loïk Le Floch-Prigent, der wegen Hinterziehung von Eurobeträgen in zweistelliger Millionenhöhe zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war, aus Gesundheitsgründen Haftverschonung erhalten. Selbst die renommierte Zeitung Le Monde behandelte beide Affären unter einer gemeinsamen Überschrift und übernahm kommentarlos ein Zitat des Unterstützerkollektivs von Nathalie Ménigon, das von »Klassenjustiz« sprach.