Straße der Optionen

Die Sheinkin Street durchzieht Tel Aviv wie ein Boulevard der kulturellen Gegensätze. von yossi matalon

Menachem Sheinkin, der am Beginn des vergangenen Jahrhunderts das zionistische Informations- und Einwanderungsbüro in Jaffa leitete und dessen einziger Anspruch, in den Geschichtsbüchern erwähnt zu werden, auf seiner Empfehlung beruht, die 1908 von jüdischen Siedlern gegründete Vorstadt im Norden solle »Tel Aviv« heißen, würde an der Straße, die seinen Namen trägt, vermutlich keinen großen Gefallen finden, wenn er sie heute sehen könnte. Er meinte nämlich, Wohn- und Geschäftsviertel sollten klar voneinander getrennt sein. Warum mussten also ausgerechnet diese Straße und die unordentliche kulturelle Vielfalt, die sie repräsentiert, mit seinem Namen verbunden werden?

Im Lauf der Zeit wurde die Sheinkin Street zu einem kulturellen Zentrum voller Widersprüche, in dem zwei ganz verschiedene Lebenshaltungen aufeinander treffen. Die älteren Einwohner, und vor allem die Gläubigen, die »Nationalreligiösen« und die Ultra-Orthodoxen unter ihnen, beobachten hier eine globalisierte, seichte und modische Kultur, die aus Europa und den USA kommt und viele Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu faszinieren vermag, eine flüchtige, künstliche Kultur, die sich dem unvergänglichen Glauben entgegenstellt.

Wir besitzen keine wirkliche historische Erinnerung, denn was ist, wird nicht bleiben. In dieser Straße entsteht die Geschichte täglich aufs Neue, Geschichte für einen Tag! Die Sheinkin Street ist ein ahistorisches Gebiet, es gibt hier keine wirkliche Spannung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ihre wechselhafte Kultur hat die »Sheinkin« zu einem Markenzeichen gemacht, zu einem Symbol für den modischen, erfindungsreichen, leichtsinnigen Lebensstil Tel Avivs. Trotzdem hat sie einiges zu bieten.

Wenn man diese Straße entlanggeht, die auf keinen Fall den Eindruck übertriebenen Raffinements erweckt, begegnet man vielen in schwarze Mäntel gekleideten ultrareligiösen Juden, man kommt an einem farbenfrohen Spielzeuggeschäft vorbei, an einem Laden für handgemachte Seife, an Gourmetrestaurants und an einer Konditorei. Es gibt ein Zentrum für Sexualaufklärung, einen Laden für kabbalistische Kultgegenstände, Designerläden, elegante Fußgänger und ungeduldige Autofahrer. Insbesondere am Freitag gibt es hier keine ruhige Sekunde und keinen freien Quadratzentimeter. Das rastlose Treiben auf der Straße macht auch die Menschen rastlos, und es scheint, als ließe sich die Hysterie der Passanten allenfalls mithilfe gewisser illegaler Giftstoffe ein wenig dämpfen.

Dieser lebhafte Abschnitt beginnt am üppig begrünten Rothschild Boulevard und endet ganz plötzlich an einer Kreuzung, wo vier andere Straßen in verschiedenen Richtungen auseinanderstreben: der Carmel-Markt, die Allenby, die Nahalat Binyamin und die King George Street.

Die Sheinkin Street ist die Lebensader dieser Gegend. Sie überträgt ihren Charakter auf alle Nachbarstraßen zur Linken und zur Rechten. Als Straßentheater präsentiert und verkauft sie alle möglichen menschlichen Darbietungen, die einander so schnell abwechseln wie die angesagten Modetrends. Und wie überall auf der Welt ist es die Bewegung der Menschen, die den Reiz der Straße ausmacht. Sowohl die Zuschauer dieser permanenten Aufführung als auch die »Schauspieler«, die sich bei ihren Auftritten nur allzu gern beobachten lassen, kommen aus Tel Aviv und der Umgebung. Sie kommen in Bussen oder Taxis, um sich in diesem künstlichen Stadtgefüge zu verlieren und vielleicht um der kulturellen und geistigen Stagnation ihres Wohnorts zu entgehen.

Politik und Religion

Früher wohnten in der Umgebung der Sheinkin Street vor allem Angehörige der Mittelklasse Tel Avivs, doch heute findet man hier nur noch wenige von ihnen. Die Einwohnerschaft hat sich geändert, es kamen Leute, denen es wirtschaftlich nicht so gut geht, ältere Menschen und ultrareligiöse Familien, die sich hier niederließen und die Hinterhöfe zum Leben erweckten. Später kamen junge Erwachsene in die »große Stadt« und begannen, den Geist einer Gegend zu bestimmen, in der es noch relativ billigen Wohnraum gab. Mit ihnen kam eine liberale Lebenseinstellung, die nicht lange zu übersehen war, aber die Konservativen weder erschrecken noch gar zum Rückzug bewegen konnte.

Hier leben und studieren schwarz gekleidete orthodoxe Juden nur einen Steinwurf entfernt von ihren säkular orientierten Widersachern, die oft nur halb bekleidet sind. Das Zusammenleben areligiöser, religiöser und ultrareligiöser Menschen hat hier nicht dieselbe Bedeutung wie andernorts. Die Gläubigen bevorzugen die Seitenstraßen und nicht die »Sheinkin« selbst, um nicht am »Götzendienst« teilnehmen zu müssen. Sie halten an ihrer Lebensweise fest, verstehen und akzeptieren es aber, dass die Welt um sie herum sich ändert. Ihre Kinder spielen in den Parks mit anderen, die halbnackt umherspringen, womöglich rauchen, tätowiert sind, ihre Haare färben oder zahllose Piercings tragen.

Für die Ultrareligiösen ist eine solche freizügige Umgebung, die ihrem Lebensstil beständig widerspricht, selbstverständlich nicht akzeptabel; aber ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ihre Nachbarschaft zu ignorieren und ihren eigenen Regeln zu folgen, wobei ihr Glaube vielleicht sogar noch bestärkt wird.

Kürzlich wurden drei linke Aktivisten verhaftet, weil sie die Einwohner der Sheinkin Street und der benachbarten Straßen per Lautsprecher aufgefordert hatten, sich in ihren Häusern einzuschließen, um auf diese Weise gegen die Ausgangssperre zu protestieren, welche die IDF immer wieder über die besetzten Gebiete verhängt. Das war aber nur eine ihrer zahlreichen Aktionen. Zuvor hatten sie schon eine Woche der Menschenrechte in den palästinensischen Gebieten ausgerufen und auf der Sheinkin Street ein Zelt aufgestellt, um darin Vorträge zu halten, Workshops zu veranstalten und gegen die IDF gerichtete Protestaktionen zu organisieren.

Der Begriff »Sheinkinist« hat auch außerhalb dieses Stadtbezirks eine große politische Bedeutung. Rechte Politiker benutzen diese abfällige Bezeichnung gern zur Diskreditierung ihrer liberalen oder linken Gegner. In der Tat finden säkulare und linke Gedanken viele Anhänger unter denjenigen, die während der letzten zwei Jahrzehnte in die Gegend der Sheinkin Street gezogen sind.

Vor einiger Zeit wurde in der »Sheinkin« eine Filiale von McDonald’s eröffnet. Dagegen formierte sich eine starke Bewegung, die aus gläubigen Juden, Umweltschützern, Mitgliedern sozialer Gruppen und Tierschützern bestand. Ihr Hauptargument lautete, der Autoverkehr werde zunehmen und die Lebensqualität in dieser Gegend werde sich deshalb verschlechtern. In vielen anderen Ländern werden amerikanische Fastfood-Restaurants als Angriff auf die einheimische Kultur empfunden. In Israel hat der Widerstand gegen diese moderne Erscheinung vor allem einen religiösen Hintergrund. Die meisten Filialen von McDonald’s bieten auch unkoschere Speisen an, obwohl sie koscheres Fleisch verarbeiten, und sie sind auch am Sabbat geöffnet. Der israelische Geschäftsführer hat den religiösen Protest oft dazu benutzt, um McDonald’s als Vorkämpfer für säkulare Werte darzustellen. Trotzdem halten viele Einwohner der Sheinkin Street dieses globale Unternehmen aus verschiedenen Gründen für ein Desaster. Es beeinträchtige die Gesundheit der Bürger, insbesondere durch erbärmliche Arbeitsbedingungen für junge Beschäftigte, es zerstöre die gewohnte Esskultur und ruiniere die Grundstückspreise. Während der Proteste stellte es sich heraus, dass die meisten Einwohner der »Sheinkin« die neue Filiale ablehnten. Aber sie waren nicht gut genug organisiert, und so hatte McDonalds mit ihnen keine nennenswerten Schwierigkeiten.

Die schwule Community

Trotz der beständigen Spannungen, die aus der engen Nachbarschaft religiöser und areligiöser Menschen entstehen, ist die Gegend um die Sheinkin Street ein guter Ort für Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle geblieben. Hier fand auch vor zehn Jahren die erste Pride Parade Israels statt. Damals nahmen allerdings nur zwanzig Menschen an ihr teil, und alle waren darauf bedacht, nicht erkannt zu werden. Heute kommen Zehntausende zur jährlichen Parade, die inzwischen in einen anderen Stadtteil verlegt wurde, und demonstrieren so einen gründlichen Wandel der Lebenshaltung, der einst von der »Sheinkin« ausging und nun große Gesellschaftskreise erreicht hat.

Reklame

Die »Sheinkin« ist eine Einkaufsstraße, unterscheidet sich aber von den typischen modernen Malls. Es gibt keine Parkplätze, keine Klimaanlagen, keine Spielplätze und keine öffentlichen Toiletten. Doch wie jedes andere Einkaufszentrum ist auch die »Sheinkin« ein Angriff auf die Sinne und die Geldbörsen ihrer Besucher. Große Plakatwände suchen unentschlossene Kunden zum Kauf zu bewegen, indem sie den Verstand mit visuellen Mitteln übertölpeln. So entsteht eine Atmosphäre der Verlockung, die viele Besucher dazu animiert, etwas zu tun. Aus Zuschauern werden Mitspieler. Wer gekommen ist, um zu sehen und gesehen zu werden, überrascht sich plötzlich dabei, dass er die Kreditkarte zückt. Technik und Täuschung werden aufgeboten, damit die Besucher ihr Geld für überflüssige Dinge ausgeben. Die betriebsame, farbenfrohe Straße schafft eine Atmosphäre, die aus einer prunkvollen anderen Welt zu stammen scheint, und einen Traum, in dem es keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten gibt und der in jedem Moment wahr zu werden verspricht, wenn man nur weiß, wo man sein Geld zu lassen hat. Man begibt sich auf eine Traumreise und verliert die Fähigkeit zur rationalen Entscheidung angesichts all der billigen Kitschgegenstände, die teuer zu bezahlen sind. Erfahrung und Intelligenz werden hier an jeder Straßenecke auf eine harte Probe gestellt.

Die Sheinkin Street ist ein Theater. Der gewöhnliche Warenverkehr erscheint in Plots, Szenerien und Masken. Aber die Wirkung dieser nie endenden Aufführung verdankt sich nur teilweise den bunten pyrotechnischen Effekten. Die profane Industrie der Warenwerbung hat in der Sheinkin Street riesige Ausmaße angenommen. Eine Gesellschaft, die es erlaubt, Kleider mithilfe provokanter Methoden anzupreisen, wird dasselbe Mittel auch benutzen, um alles Mögliche zu verkaufen. Aber offensichtlich kooperieren die Menschen ganz freiwillig mit diesem System. Und sollten sie den Erwartungen trotzdem nicht vollständig entsprechen, werden noch andere gewagte und verblüffende Tricks angewandt, um sie dahin zu bringen, wohin sie sollen.

An einem Freitag im letzten Jahr blockierte eine Menschenmenge den Verkehr auf der Sheinkin Street. Eine Modefirma eröffnete eine neue Filiale. Niemand dachte daran, seinen Zuschauerplatz bei der besten Show der Stadt aufzugeben. Was als harmlose Modenschau begann, verwandelte sich schnell in ein ausschweifendes soziales Schauspiel mit einem Anflug von Pädophilie. Am helllichten Tag, mitten in Tel Aviv zogen sich minderjährige Mädchen sich aus; gierige Männer schauten ihnen zu und applaudierten für jedes Kleidungsstück, das sie fallen ließen. Auf die Reaktion brauchte man nicht lange zu warten. Nach wenigen Tagen wurde der neue Laden in Brand gesteckt, ganz offensichtlich aus Protest gegen seine unkonventionelle Reklame. Dieser Fall öffentlicher Unkeuschheit schien all diejenigen aus dem Verborgenen hervorzutreiben, die Israel schon immer hatten »reinigen« wollen. Die Polizei vermutete, dass die Bilder dieses Auftritts gewisse Gefühle verletzt hätten und dass einige Bürger sich deshalb entschlossen hätten, eine Straftat zu begehen, indem sie den betreffenden Laden anzündeten. Eine Woche vor der Brandstiftung hatte dieser ein Flugblatt verteilen lassen und das Angebot gemacht, »ein Hemd für ein Hemd und eine Hose für eine Hose« einzutauschen. Niemand hatte erwartet, dass diese Werbemasche außer Kontrolle geraten könnte und dass die Kunden auf die Idee kämen, auch Büstenhalter und Slips zu tauschen. Mitarbeiter der Modefirma hatten versucht, die Mädchen davon abzuhalten, sich vollständig auszuziehen, aber diese waren aggressiv geworden und hatten darauf bestanden, auch ihre Unterwäsche abzulegen.

Architektur

Die Sheinkin Street entspricht den Lebensbedürfnissen eines vergangenen Jahrhunderts. Sie ist eine enge und ständig verstopfte Einbahnstraße. Abgesehen von einigen wenigen Gebäuden, besitzt sie keinerlei architektonischen Wert. Die Mischung der Stile, die man hier antrifft, ist ziemlich langweilig. Besondere Schönheiten findet man hier nicht. Die verwendeten Baumaterialien konnten der Misshandlung durch das städtische Leben nicht lange standhalten. Sie sind bunt, weich, nachgiebig und zerbrechen schnell. Die äußere Wirklichkeit scheint der inneren Stärke des menschlichen Geistes zu widersprechen, der in der Gegend um die »Sheinkin« herrscht. Wer auf der Straße steht, muss sich dem Chaos ausgesetzt fühlen. Die unscheinbaren Gebäude verbreiten eine Botschaft, aber sie hat nichts zu tun mit der menschlichen Umwelt, die an der Architektur zerrt und zehrt. Die Plakatwände erwecken den Eindruck von Lüge und Täuschung. Die Geometrie ist weder einheitlich noch endgültig.

Die Gebäude sind von unterschiedlicher Höhe, die meisten haben flache Dächer und fast alle sind alt und vernachlässigt. Wo immer es möglich war, wurden Reklametafeln angebracht. Überall fehlt es an Bänken, Mülleimern, Hinweisschildern und angemessener Beleuchtung, denn an die Bedürfnisse ihrer Einwohner hat man bei der Planung dieser Straße offenbar am allerwenigsten gedacht.

Nur das Erdgeschoss mancher Häuser erhält hin und wieder ein neues Aussehen, wenn ein neuer Laden eröffnet wird, wo ein alter hat schließen müssen. Vom ersten Stockwerk an bleiben die Fassaden grau und verwittert. Der flüchtige Schein, der im Parterre erzeugt wird, dient dazu, den Verfall der Straße unsichtbar zu machen. Dieser Ort ist deshalb so einzigartig, weil er so unbestimmt und unentschlossen ist. Kein Laden gleicht dem nächsten, kein Einheimischer seinem Nachbarn, kein Passant den vielen anderen, die wie er gekommen sind, um sich aufzuheitern.

In der Sheinkin Street ist die Scheidewand zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen Stabilität und Unbeständigkeit, Schwarz und Weiß, Wahrheit und Lüge, zwischen privatem und öffentlichem Besitz sehr dünn. Diese Straße ist gleichsam die Phantasievorstellung von einem ganz anderen, anarchischen Raum, weit entfernt von dem physischen und kulturellen Raum, in dem sie erbaut wurde. Sie besteht aus Konservatismus und Muffigkeit, aber ebenso aus wilden Träumen, Wagemut und extremer Freiheit. Ohne Toleranz und gegenseitigen Respekt könnte eine solche Mischung nicht existieren. Und trotz allem hat jeder das Gefühl, dass an diesem Ort nichts unmöglich ist. In dieser Straße träumt die Jugend von kulturellem Heldentum in Israel und anderswo, ohne zeitliche Grenzen, vom Künstlertum in der Gegenwart oder in einer phantasierten Zukunft, sie sucht nach Inspiration und Richtung und vielleicht nach einer Möglichkeit, sich zu verwirklichen. Derweil kauft sie sich selbst Geschenke und ist für einen Augenblick glücklich.

übersetzung: joachim rohloff

Yossi Matalon ist Architekt in Tel Aviv.