Stauffenberg

Wie aus Putschisten Widerstandskämpfer gemacht wurden. Die Instrumentalisierung des 20. Juli. von jörg sundermeier

Rechter Unterarm stark geschwollen, essigsaure Tonerde-Aufschläge angeordnet. Bluterguss am rechten Unterschenkel zurückgegangen. Am dritten oder vierten Finger der linken Hand zeigt Rückenfläche große Brandblase, Verband. Hinterkopf zum Teil und Haare vollständig weggebrannt und an der Wade mittags handtellergroße Hautbrandwunde zweiten Grades und eine Menge Kontusionen und offene Hautstellen.« So sah nach Aussage seines Leibarztes der »Führer« Adolf Hitler am 20. Juli 1944 aus, nachdem er ein Bombenattentat überlebt hatte.

Der Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg war zu diesem Zeitpunkt schon so gut wie tot, seine Verhaftung stand unmittelbar bevor, denn sein Plan und der seiner Mitverschwörer, die Wehrmacht aus ihrer Führerhörigkeit zu befreien, war gescheitert. Wenn das denn überhaupt der Plan war.

Seit Jahrzehnten streiten sich Historiker darum, was die »Männer des 20. Juli« wollten, ob es ein Putschversuch war oder eine Revolution von oben, ob die Herren weiter Krieg geführt hätten und welche Motive sie überhaupt hatten.

In der Nacht zum 21. Juli schrieb der Schwiegersohn des Generals Friedrich Olbricht, Friedrich Georgi, dem es gelungen war, aus dem umstellten Bendlerblock in Berlin, wo sich die Verschwörer aufgehalten hatten, zu fliehen, diese Worte seines Schwiegervaters auf, der zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift wahrscheinlich schon erschossen worden war: »Ich weiß nicht, wie eine spätere Nachwelt mal einst über unsere Tat und über mich urteilen wird, ich weiß aber mit Sicherheit, dass wir alle frei von irgendwelchen persönlichen Motiven gehandelt haben und nur in einer schon verzweifelten Situation das Letzte gewagt haben, um Deutschland vor dem völligen Untergang zu bewahren. Ich bin überzeugt, dass unsere Nachwelt das einst erkennen und begreifen wird.«

Man erkannte und begriff schon recht früh. Aus Schweden meldete ein sozialdemokratischer Emigrant mit dem Tarnnamen Willy Brandt begeistert: »Es gibt ein ›anderes Deutschland‹, trotz dessen Unsichtbarkeit.« Die ostpreußische Adlige Marion Gräfin Dönhoff, selbst am Rande an den Attentatsvorbereitungen beteiligt, verfasste 1946 ein Memorandum über die »letzten wirklichen Patrioten«: »Und das ist wohl auch das Letzte, was uns geblieben ist: das Beispiel der Besten, die ihr Leben gegeben haben nicht für die Fleischtöpfe Europas, wie Adolf Hitler es befahl, sondern für die Wiederherstellung der Ehre und Würde ihres Volkes. Denn in der Geschichte ist nicht nur der Erfolg entscheidend, sondern der Geist, aus dem heraus gehandelt wird. Dieser Geist war vielleicht am stärksten in der Gestalt des Grafen Stauffenberg sublimiert. Er war der geborene Führer, ein ungewöhnlich begabter Offizier, dem man schon auf der Kriegsschule eine große Zukunft vorausgesagt hatte …«

Doch die Alliierten wollten nicht hören und lesen, sie beachteten dieses Memorandum einfach nicht. Ende der vierziger Jahre war auch die westdeutsche Presse nicht bereit, über den 20. Juli zu sprechen; noch galt Deutschland als »besiegt« und nicht als »befreit«. Zwar besann man sich bald auf die »Männer des 20. Juli«, doch noch sah man in ihnen nur stramme Soldaten, die lediglich die Zerschlagung Deutschlands hatten verhindern wollen. Das Bewusstsein, dass Deutschland 1945 nicht an die »Besatzer« gefallen sei, sondern dass, im Gegenteil, das »gute Deutschland« an der Seite der Alliierten gegen Hitler gekämpft hatte, setzte sich erst durch, als die meisten Nazis hochbetagt gestorben waren, also in den neunziger Jahren.

Im Osten dagegen sah man zunächst mit Bewunderung auf die Attentäter. »Der 20. Juli war eine Revolution, und es wäre neu in der Geschichte, eine Revolution deshalb keine Revolution zu nennen, weil sie nicht zum Erfolge führte. Der 20. Juli bedeutete in diesem Gestapo- und Mörderreiche ebenso viel wie die Aufstandsbewegungen gegen die deutsche Armee in Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei, als die Befreiungsarmeen in Sicht waren«, sagte 1945 Otto Grotewohl, der spätere Ministerpräsident der DDR.

Erst nachdem jedes Stalinsche Wiedervereinigungsangebot abgelehnt worden war, wurde in der DDR das Attentat als Putschversuch oder als Palastrevolte bewertet. Walter Ulbricht schrieb 1955: »Die gleichen Kräfte der Bourgeoisie, die Hitler mit zur Macht gebracht und die Politik des faschistischen deutschen Imperialismus unterstützt hatten, solange er militärische Erfolge hatte, versuchten beim Herannahen der Niederlage einen Absprung aus dem Zuge, der dem Abgrund zueilte, um die Grundlage der monokapitalistischen Herrschaft zu retten.«

Ohne weiteres kann man einigen der zum Teil sehr verschiedenen Gruppen, die den 20. Juli vorbereiteten, ein zumindest vages demokratisches Verständnis unterstellen. Einige waren für die Weiterführung des Krieges, andere vehement dagegen. Viele, insbesondere die Wehrmachtsoffiziere, waren glühende Antisemiten und Bolschewistenfresser. Einige, etwa Funktionäre aus den Gewerkschaften, waren linke Vaterlandsfanatiker, aber schon immer Antinazisten gewesen, andere entschlossen sich im Verlauf des Krieges zur Ablehnung der Nazis, wieder andere wandelten ihr Weltbild vom Nazismus zum milderen Faschismus ab.

Es ist schwer zu sagen, was geschehen wäre, wären das Attentat und die Inhaftierung diverser Nazigrößen, die Entmachtung von SS und Gestapo und die Aufnahme von Friedensverhandlungen gelungen. Ganz offensichtlich allerdings wollte kaum jemand außer diesen Verschwörern, die sich lediglich darauf hatten einigen können, dass Hitler beseitigt werden sollte, einen Aufstand betreiben. Die wichtigsten Akteure des 20. Juli rechneten selbst nicht damit, dass sie großen Zuspruch aus der Bevölkerung finden würden.

Doch seit 1945 arbeiteten in Ost wie West die patriotischen Kräfte daran zu zeigen, dass die Deutschen am 20. Juli zu sich selbst gekommen seien, dass Stauffenberg, »der geborene Führer«, gewissermaßen »für uns alle« im Bendlerblock erschossen worden sei. Hinter dessen Märtyrertum verschwinden die Täter, und es ist kein Wunder, dass gerade jetzt, zum 60. Jahrestag dieses Militärputschversuches, Stauffenberg, der erst recht spät zur Gruppe der Verschwörer stieß, zu ihrem charismatischen Anführer stilisiert wird.

Der rechtskonservative Carl Goerdeler, der »Abwehrgeneral« Canaris, der Generaloberst Ludwig Beck oder Julius Leber werden dagegen weniger herausgestellt, obschon sie doch wesentlich an den Plänen beteiligt waren. Sie aber entsprechen nicht dem Heroenbild: Beck hatte sich aus Gewissensgründen als Chef des Generalstabes schon 1938 demissionieren lassen, Goerdeler war Antisemit, Leber Sozialdemokrat, Canaris lange Zeit begeisterter Nazi.

Stauffenberg dagegen, schmuck in Uniform, schwer verwundet, eine lyrische Natur, lange linientreu, dann plötzlich »aufgewacht«, kann als Attentäter und maßgeblicher Planer der Verschwörung in einer Person alle Sehnsüchte des deutschen Volkes befriedigen. Dank seiner sind die Deutschen Teil der Allianz gegen Hitler. Die Frage, wer die Nazis gewählt, die Partei gebildet, den Weltkrieg geführt, die KZ betrieben, die Sklavenarbeiter geschunden und, vor allem, wer von alledem profitiert hat, verblasst neben dem Widerstandsmythos.

Stauffenbergs Attentat verhilft gerade deshalb, weil es nicht gelungen ist, seit der Wiedervereinigung zum neuen deutschen Opferdasein. Jetzt kann man hier glücklich die Toten der Bombennächte gegen Auschwitzopfer aufrechnen. Die patriotischen Stimmen aus Ost wie West haben ihre Mission erfüllt. Neben dem »anderen Deutschland« gibt es kein eigentliches mehr.