Ein dritter Weg für Europa

Tony Blair erhielt für seine Rede zum Antritt der britischen Ratspräsidentschaft mehr Applaus als erwartet. Britische Konservative reagierten dagegen enttäuscht. von alex veit
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War der gescheiterte EU-Gipfel eine Neuauflage der Seeschlacht von Trafalgar, wie die französische Boulevardzeitung France Soir meldete, obgleich der Kampf auf dem Festland stattfand? Oder doch eher ein zweites Waterloo, wie Libération und die britischen Zeitungen Guardian und Sunday Times verkündeten? Denn nicht nur jährte sich zum 190. Mal die Niederlage Napoleons gegen den Herzog von Wellington, das Remake fand auch noch unweit des historischen Kampffelds statt. Wenn auch »etwas weniger blutig«, wie der linksliberale Observer bilanzierte. Die britischen und französischen Zeitungen waren sich einig: Präsident Jacques Chirac hat eine entscheidende Auseinandersetzung gegen seinen britischen Widersacher verloren und die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise.

Die Kommentatoren der rechten, anti-europäischen Zeitungen in Großbritannien waren nach dem gescheiterten Gipfel zufrieden mit dem Verhalten von Premierminister Tony Blair. Während er zuvor als pro-europäisch galt, schien er nun die EU an den Rand des Zusammenbruchs gebracht zu haben. »Wir nörgeln nicht. Stattdessen frohlocken wir, da ein politischer Sünder umkehrt«, kommentierte das Boulevardblatt The Sun Blairs Vorgehen. So ähnlich äußerte sich sogar der konservative Oppositionsführer Michael Howard: »Es gibt mehr Aspekte als normalerweise, in denen wir übereinstimmen.« Auch die linksliberalen Zeitungen gaben Blair recht darin, dass die EU reformiert werden müsse.

Geeint gegenüber einer angeblichen Übermacht vom Festland, stand in der vorigen Woche dann die Übernahme der britischen Ratspräsidentschaft an. »Die Aufgabe ist herkulisch«, hieß es in der Sunday Times. Aber wider Erwarten lief es nicht schlecht für Blair bei seiner Rede »in der Höhle des Löwen«, wie der Guardian das Europa-Parlament nannte. Der Premierminister stellte am Donnerstag voriger Woche den Parlamentariern das Arbeitsprogramm der britischen Ratspräsidentschaft für die kommenden sechs Monate vor. Am Tag zuvor bejubelten die Abgeordneten noch den scheidenden Ratspräsidenten und luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker, nachdem dieser kaum verhüllt prophezeit hatte, Blair verklärte seine Schuld an der EU-Krise, die er aus Egoismus und Unverantwortlichkeit ausgelöst habe.

Doch es kam anders. »Ich bin ein leidenschaftlicher Europäer«, rief Blair während seiner Rede ins Plenum. Und er wies die Vorwürfe aus Deutschland, Frankreich und Luxemburg zurück, er wolle Europa in eine reine Freihandelszone umwandeln. Er werde niemals hinnehmen, »dass Europa nur ein wirtschaftlicher Markt ist«. Nach seiner Rede applaudierten die Parlamentarier lange. »Genau so, wie er ein Labour-Publikum beschwatzen kann, dass es Ideen applaudiert, die es instinktiv ablehnt, hat Blair gestern die feindlichste aller Menschenmengen bezaubert«, beschrieb ein Autor des Guardian die Vorgänge in Brüssel. Die Europa-Parlamentarier waren wohl selbst überrascht von ihrer relativ enthusiastischen Reaktion auf einen Mann, der bis vor kurzem noch als Inkarnation eines angelsächsischen Turbokapitalismus galt, der die Sweatshops, die aus den Romanen von Charles Dickens bekannt sind, über den bislang angeblich von sozialer Gerechtigkeit gekennzeichneten Kontinent verbreiten will.

Vielleicht fiel ihnen auch einfach nur auf, dass die angeblichen Unterschiede zwischen den deutsch-französischen und den britischen Vorstellungen von Europa in der Realität eher marginal sind. Blair sprach davon, dass das Arbeitsrecht liberalisiert werden müsste und dass die naturwissenschaftliche Forschung und insbesondere die Biotechnologie gefördert werden müssten. Er setzte Außenpolitik und militärische Aufrüstung gleich und hetzte gegen Migranten und »kriminelle Schlepperbanden«. Alles in allem also eine Agenda, wie sie die EU schon lange beschlossen hat, die in allen Mitgliedsländern verwirklicht wird und von Blair nie in Frage gestellt worden ist.

In nachhinein erscheinen die Ereignisse der vergangenen Wochen wie ein schlau eingefädelter Plan des britischen Premierministers, um Großbritannien und sich selbst endlich ins Zentrum der Europäischen Union zu bringen. Dies war, seit Blair 1997 die britische Regierung übernommen hat, immer seine erklärte Absicht. Er nutzte die Schwäche des französischen Präsidenten nach dem verlorenen Referendum zur EU-Verfassung und der deutschen Regierung, deren Abwahl im Herbst innerhalb der Londoner Regierung als sicher gilt. Blair ließ die Verhandlungen zum EU-Budget scheitern, um sich anschließend selbst als passionierten Europäer in Szene zu setzen – übrigens ohne überhaupt ein detailliertes Arbeitsprogramm für die nächsten sechs Monate vorzustellen.

Nach dem unerwarteten Applaus für Blair in Brüssel fühlte sich die politische Rechte in Großbritannien hintergangen. Der Schatzkanzler im Schattenkabinett der Tories, George Osborne, sagte, Blair sei »schlüpfriger als eine Tube Schmierfett«, und im Daily Telegraph stand: »Europa bietet dem Premierminister eine großartige Gelegenheit, widersprüchliche Sichtweisen in einer warmen Suppe von Worten zu vermischen. Die gestrige Rede war ein klassisches Beispiel aus diesem Genre.«

Der Kommentar im linksliberalen Independent hingegen klang so, als sei er direkt aus Blairs Rede zitiert. Die EU müsse die Globalisierung und den Wettbewerb gegen China und Indien meistern, hieß es und der Autor schwärmte von einem »europäischen Dritten Weg«: »Europa kann sich keine Stagnation leisten; es kann es sich nicht leisten, Naturwissenschaften und Technologie, Forschung und Entwicklung zu vernachlässigen; es muss sich ändern als Antwort auf die Veränderungen in der weiteren Welt. Es muss sich modernisieren.«

Blair will also die EU vor sich selbst retten und bei dem G8-Gipfel im schottischen Gleneagles, der in der kommenden Woche beginnt, auch noch das Weltklima und Afrika. Falls nicht, wie der Guardian befürchtet, ein rachsüchtiger Jacques Chirac dieses Treffen wiederum scheitern lässt – oder zumindest einen Tag zu spät kommt, um seine Verachtung zu zeigen.

Doch vielleicht hat sich auch bei Chirac eine innere Reinigung ergeben. Die Krise der Europäischen Union als die Chance zu einer Katharsis zu begreifen, dies forderten sowohl ein Vertrauter von Blair, Peter Mandelson, als auch Außenminister Jack Straw. Nach der aristotelischen Definition der griechischen Tragödie bedeutet dies die Läuterung der Seele von den Leidenschaften eleos und phobos – auch übersetzbar als »Jammern« und »Zähneklappern«.