Ein Semester für die Peripherie

Während ihrer Ratspräsidentschaft will sich die finnische Regierung als Verteidigerin von sozialen Rechten profilieren und demonstrieren, dass Europa auch ohne Verfassung funktioniert. von bernd parusel, stockholm

Bei einem Besuch in Deutschland verglich die finnische Präsidentin Tarja Halonen die EU einmal mit einer Flotte von Schiffen auf offener See. Sie seien unterschiedlich groß, sähen unterschiedlich aus, aber – und das sei das Wichtige – »sie fahren in die gleiche Richtung«.

Das war einmal, möchte man Halonen heute entgegnen. Seit dem negativen Ergebnis der Referenden über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden im vergangenen Jahr scheint die Flotte orientierungslos dahinzudümpeln. Das sieht derzeit auch die finnische Regierung so, die am ersten Juli für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt. Sie will nun unter Beweis stellen, dass Europa auch ohne Verfassung handlungsfähig bleibt: »Die Union muss im Rahmen der bereits gültigen Verträge demonstrieren, dass sie funktioniert«, heißt es in einem Planungspapier der Regierung. Das schwindende Vertrauen der Bürger in die europäische Politik könne gestärkt werden, wenn die EU Fortschritte in Bereichen mache, »in denen sie ef­fektiver ist als die Mitgliedsstaaten jeweils für sich.« Dazu gehören für die Finnen ein gemeinsamer Dienstleistungsmarkt sowie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

Premierminister Matti Vanhanen von der Zentrumspartei und sein sozialdemokratischer Außenminister Erkki Tuomioja meinen zudem, dass Europa mehr »Offenheit und Transparenz« brauche. So soll der Rat der EU nicht länger hinter verschlossenen Türen tagen und abstimmen. In Fällen, in denen das so genannte »Mitentscheidungsverfahren« angewandt wird – das heißt bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit –, soll künftig öffentlich verhandelt werden, damit die Bürger den jeweiligen Hintergrund besser nachvollziehen können.

Auch Europas Energieversorgung ist Vanhanen und Tuomioja ein Anliegen. Im Frühjahr 2007 soll die Union eine gemeinsame Energiepolitik bekommen, und die Diskussionen darüber dürften zum Großteil während der finnischen Präsidentschaft stattfinden. Suomi, wie die Finnen ihr Land nennen, will die europäischen Energiemärkte zusammenbringen, einen sparsameren Verbrauch fördern und Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien vereinbaren. Die »umfassende Partnerschaft« zwischen der EU und Russland, die Finnland dank seiner traditionell regen Kontakte nach Moskau fördern möchte, könnte auch dazu genutzt werden, den Nachschub an russischem Öl und Gas zu sichern, auf den nicht nur Finnland angewiesen ist.

Auch wenn das dünn besiedelte Land mit seinen 5,2 Millionen Einwohnern für viele Europäer ein Vorbild ist, fragt man sich, ob dies auch für die Energiepolitik gilt. An der finnischen Westküste wird gerade das neue Atomkraftwerk Olkiluoto 3 gebaut, das 2009 mit einer Leistung von 1 600 Megawatt ans Netz gehen soll. Die Betreibergesellschaft TVO argumentiert, die energieintensive Forst- und Papierwirtschaft, von der Finnland ökonomisch abhängt, brauche billigen Strom. Die vier bisher vorhandenen finnischen Reaktoren haben laut TVO einen Anteil von rund 26 Prozent an der Gesamtproduktion von Strom. Mit dem neuen Reaktor in Olkiluoto soll der Anteil auf 35 Prozent steigen.

Auch wenn die Atompolitik nicht überall gut ankommt, wird Finnland in Europa für viele Errungenschaften bewundert. Für sein Schulsystem beispielsweise: Im »Programme for International Student Assessment« (PISA) belegten die finnischen Schüler 2003 in zwei von drei Disziplinen den ersten Rang. Seitdem pilgern neugierige Pädagogen nach Finnland, um zu lernen, wie man richtig unterrichtet.

Das nordische Land hat sich zudem mit Kommunikationstechnologie einen Namen gemacht. Die Branche steht heute für rund sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts – was neben Chancen auch Risiken birgt: Geht es Nokia gut, brummt die Wirtschaft, sollte es der Branche einmal schlechter gehen, kann dies das Wachstum bremsen.

Dass im Ausland zwar Nokia, die finnische Sauna und seit dem Grand Prix d’Eurovision auch die Rockband Lordi weithin bekannt sind, weniger aber finnische Parteien und Politiker, liegt an den meist unspektakulären Verhältnissen in Helsinki. Seit Juni 2003 regiert dort eine Mitte-Links-Koalition aus Zentrumspartei, Sozialdemokraten und der Schwedischen Volkspartei, der Vertretung der schwedischen Minderheit. Premier Vanhanen gilt als effizienter und kühler Verwalter. Neben ihm wird Finnland auch von Staatspräsidentin Halonen repräsentiert, die 2000 ihr Amt antrat und in diesem Frühjahr wieder gewählt wurde. Die einstige Sozialdemokratin, die früher in der Frauenbewegung aktiv war, ist heute parteilos. Wegen ihrer Haarfarbe und politischen Herkunft hat sie aber noch immer den Spitznamen »rote Tarja«. Halonen gilt als Präsidentin der »kleinen Leute«. Sie spricht viel über »gerechte Globalisierung« und soziale Themen, etwa über die finnische Arbeitslosigkeit, die mit 8,8 Prozent in der Gesamtbevölkerung und rund 20 Prozent unter den Jugendlichen höher ist als in den anderen nordischen Ländern.

In der Debatte um die EU-Verfassung hielt sie sich bisher bedeckt. Die Regierung und die Mehrheit im Parlament wollen das Dokument jedoch während der finnischen Ratspräsidentschaft ratifizieren – auch wenn dies die Erfolgschancen des Vertrags kaum steigern dürfte. Einen weiteren Schwerpunkt des finnischen Vorsitzes dürfte schließlich die Erweiterung der EU bilden, laut Vanhanen eine »Erfolgsgeschichte«. Rumänien und Bulgarien sollen, wenn sie die letzten noch ausstehenden Bedingungen erfüllen, Anfang 2007 der EU beitreten. Mit Kroatien und der Türkei stehen Verhandlungen an, und Slowenien und Litauen, die bereits Mitglieder sind, wollen den Euro einführen.

Neben der üblichen Parole von der »Steigerung der Konkurrenzkraft« Europas auf dem Weltmarkt beteuerten sowohl Halonen als auch Vanhanen, soziale Sicherheit als einen »positiven Standortfaktor« zu betrachten. Er wolle keine »Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis«, sagte der Premierminister am Mittwoch der vergangenen Woche im finnischen Parlament, sondern auch die Rechte der »Schwächsten in der Gesellschaft« beachten.

In den finnischen Zeitungen liest man bisher, auf große Schritte dürfe man nicht hoffen. Dass ein kleines Land an der Peripherie Europas die Union in nur sechs Monaten wieder auf Kurs bringt, wäre wohl zu viel verlangt – zumal auch die Finnen nicht recht wissen, wohin die Reise gehen soll, wenn die »Denkpause« über den Verfassungsvertrag zu Ende ist.