Das jüngste Gedicht

Zum Tod des Dichters Robert Gernhardt. von jörg sundermeier

Robert Gernhardt hat im Wortsinne ein Kunststück vollbracht und ist unsterblich geworden. Nicht erst seit seinem Tod in der vergangenen Woche weiß man, dass er ein großer Dichter war, nicht erst seit diesem Tage weiß man, dass sein Werk, seine Gedichte, seine Erzählungen, seine Bilder, seine Strips und seine Stimme bleiben.

Das letzte veröffentlichte Gedicht, das an seinem Todestag in der FAZ erschien, sollte eine Art Vorschau sein auf den in diesem Monat erscheinenden Gedichtband »Später Spagat«. Nun ist es gewissermaßen ein Nachruf von eigener Hand geworden.

Schon der Titel des Gedichtes »ICH ICH ICH« ist Spielerei. Zum einen wies Gernhardt gern kokett auf seinen Narzissmus hin, zum anderen ist »ICH ICH ICH« zugleich der Titel des einzigen Romans, den er, der fast ausschließlich als Lyriker geehrt wird, veröffentlicht hat. Der Zwölfzeiler endet mit den Worten: »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, / Die Deutschen sind stolz auf mich. / Wie? Der zweite Satz trifft nicht zu? / Dann stimmt auch der erste nicht!«

Jetzt, nach seinem Tod, sind die Deutschen selbstverständlich stolz auf Gernhardt. »Wir können Goethes, Schillers, Klopstocks Hinscheiden durchaus verschmerzen, solange nur Robert Gernhardt uns nicht genommen wird«, hieß es schon zu seinen Lebzeiten in der FAZ. Roger Willemsen beschied ihm herablassend, dass er zuletzt »seriöser« geworden sei, andere empfanden ihn entweder als Satiriker oder Schelm, man stellte ihn wahlweise neben Heine, Schiller oder Wilhelm Busch (als ob diese drei so einfach vergleichbar wären). Die Stadt Frankfurt schließlich verkündete die Worte von Oberbürgermeisterin Petra Roth, dass »in der Literaturgeschichte Frankfurts« Robert Gernhardt »einen herausragenden Platz einnehmen« werde.

Dass er diesen Platz schon eingenommen hat, scheint die Oberbürgermeisterin vergessen zu haben. Denn sie spricht aus, was alle meinen: Nun kann Gernhardt endlich einsortiert werden. Er gehört ihnen jetzt, wehrlos und daher nutzbar, wie es gerade passt. Er wird zum lokalpatriotischen Dichter erklärt oder zum Karikaturisten, zum Anwalt des »kleinen Mannes« oder zum Großlyriker.

Dabei hat sich der Autor Zeit seines Lebens gegen Vereinnahmungen gewehrt. Er machte sich der Gotteslästerung ebenso schuldig wie des Ungehorsams gegenüber dem Staat, er verlachte Schule und Universität, zeigte das Lächerliche am Tod wie das Absurde am Spektakel. Und er zweifelte öffentlich wie privat an sich selbst.

Gernhardt wurde 1937 in eine gutbürgerliche Familie im damaligen Reval (Estland) hineingeboren, sein Vater fiel 1945, die Mutter floh in die Westzonen. Er wuchs in Göttingen auf, studierte in Stuttgart und Berlin und war von 1964 bis 1965 Redakteur der Satirezeitschrift Pardon. Zusammen mit F. K. Waechter und Fritz Weigle, der unter dem Pseudonym F. W. Bernstein bekannt wurde, gründete er die legendäre Welt im Spiegel (WimS), die bis 1976 monatlich in Pardon erschien. 1966 veröffentlichte er mit Bernstein und Waechter das Buch »Die Wahrheit über Arnold Hau«, das Maßstäbe für das komische Schreiben setzte.

Nach Streitigkeiten verließen er und andere Mitarbeiter die Zeitschrift und gründeten das Satiremagazin Titanic, das bis heute das Erbe von Pardon weiterführt. In Titanic schrieb Gernhardt auch regelmäßig unter dem Kollektiv-Pseudonym »Hans Mentz«, das auch Eckhard Henscheid und andere nutzen, Beiträge zu der Rubrik »Humorkritik«. Er wird von der Literaturkritik zu den Autoren der »Neuen Frankfurter Schule« gerechnet, eine Einordnung, die ihm selbst – wie allen anderen dieser Schule zugerechneten Zeichnern und Dichtern – nie recht passte.

Nebenbei schrieb er gemeinsam mit Bernd Eilert und Peter Knorr viele Jahre Gags für den Fernsehkomiker Otto Waalkes, die später auch Eingang in die Bücher und Filme von »Otto« fanden. Gemeinsam mit Waechter, Alfred Edel und Arend Agthe drehte er zudem einige beispielgebende »Arnold-Hau«-Kurzfilme und den großartigen Spielfilm »Das Casanova-Projekt«.

Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, seine Lyrik-Bände machten ihn seit Mitte der neunziger Jahre auch einem großen Publikum bekannt. Denn das Feuilleton und der Literaturbetrieb erkannten ihn langsam an, er wurde plötzlich mit Preisen geradezu überhäuft, vor die Fernsehkamera gezerrt und gern auch mit sensationell dummen Fragen wie dieser konfrontiert: »Was glauben Sie, wie es Heine heute ergehen würde? Könnte er sich seinen Spott noch leisten?« Er besaß die Höflichkeit, auch auf solche Fragen zu antworten.

Dass er plötzlich »entdeckt« wurde, liegt auch daran, dass er seinen Tonfall und die Themen variierte. Seine Gedichte waren für ihn auch eine Möglichkeit, seine Herzkrankheit und später auch sein Krebsleiden zu bewältigen. Seine viel beschworene späte »Seriosität« ist jedoch schon in den Texten der siebziger Jahre zu finden. Es ist ja nicht nur ein moralischer Lehrsatz, dass zu gutem Spaß sehr viel Ernst gehört.

Man entdeckte ihn nun auch, weil er noch leichter zu finden war. Gernhardt wechselte notgedrungen noch einmal den Verlag, ging vom recht kleinen, nicht eben solventen Haffmans-Verlag zum großen Fischer-Verlag, obschon er zu jenen Autoren gehörte, die Gerd Haffmans am längsten treu blieben. Der große Fischer-Verlag aber konnte ihn anders vermarkten und brachte dem Autor auch den Beifall jener Claqueure, die alles loben, was ihnen die Verlagsleitung beim Austernessen ans Herz gelegt hat.

Er hat diesen Beifall genossen, wiewohl er darum wusste, dass dieser Beifall weniger seinen Texten, erst recht nicht seinem Werk, sondern vielmehr einem Image galt, das er dann und wann auch pflegte. Ihm das vorzuwerfen, ist jedoch zu billig. Es ist dem Künstler nicht zu verdenken, dass er sich über Beifall freut. Genauso wenig ist ihm vorzuwerfen, dass er, als sich Otto Waalkes vom lustigen Spaßvogel zum albernen Quälgeist entwickelte, nicht sofort Abstand nahm. Peter Hacks hat unter Pseudonym Boulevardstücke geschrieben, Bert Brecht hat den Erfolg seiner Revue »Dreigroschenoper« kalkuliert, Goethe hat sich zum Geheimrat machen lassen – warum das gute Geld schmähen, wenn es dem Künstler erlaubt, unbekümmert zu arbeiten?

Gernhardt beherrschte die klassischen Formen als Maler wie als Dichter, er konnte das Sonett in Form eines Sonetts schmähen, er konnte Tonfälle parodieren, er konnte zeichnen und er konnte kritisieren. Seine humorkritischen Arbeiten haben Bestand, seine Lyrik, in der viel Kunsthandwerk steckt – Überfülle produziert der, dem reichlich gegeben ist –, wird überleben, seine Erzählungen, sein Drama, sein Roman, die Bilder, all das wird bleiben.

Als Stilist focht er lachend für das Bewährte, er forderte das gegenständliche Bild, er forderte die klassische Lyrik. Daher war in letzter Zeit oft von ihm zu hören, wenn es um die Klassiker ging, er äußerte sich zu Goethe, Brecht, Heine, Thomas Mann und anderen, in deren Licht er sich jedoch nicht sonnte, sondern ausruhte. Die Formvergessenheit der heutigen Kunst war ihm zuwider.

Gernhardt war ein Klassiker in einer Welt ohne Klassik. Er hat das Allerbeste daraus gemacht. So ist seine Kunst, so ist er unsterblich geworden. »Mich gibt es doch nur einmal / Mich kann man doch nicht abservieren / Mich will man halten, nicht verlieren / Und – Teufel auch! – begraben. // Ich bin bei Gott ein Einzelstück / So’n Stück gibt man doch nicht zurück / Das hebt man auf und preist sein Glück: / Wie schön, dass wir dich haben!«