Du bist Palästina

Die Entführung des israelischen Soldaten Shalit ist auch ein Affront gegen Präsident Abbas und die palästinensische Autonomiebehörde. Dennoch hält der nationale Konsens. von jörn schulz

Es ist ein zweifelhaftes Unterfangen, Menschen zu fragen, ob sie ein gutes oder schlechtes Bild von einer Bevölkerungsgruppe haben. Eigentlich sollten Menschen grundsätzlich nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit oder Nationalität beurteilt werden. Wenn einer Ende Juni vom Pew Research Center veröffentlichten Umfrage zufolge nur zwei Prozent der Ägypter ein positives Bild von »den Juden« haben, belegt das die weite Verbreitung antisemitischer Ressentiments. Doch das abgefragte Pauschalurteil verbirgt, dass viele Ägypter eine gewisse Bewunderung für den Feind hegen.

»Israel stellt die Welt auf den Kopf wegen eines einzigen entführten Soldaten«, stellt der liberale Kairoer Blogger Big Pharao fest. »Ich hatte mehrere Gespräche mit Freunden, die, obwohl sie Israel weiterhin verurteilten, überrascht waren, dass Israel bereit ist, alles zu tun, um den Soldaten zu retten«, während »der Regierung hier ihre eigenen Bürger egal sind«.

Für die Patriarchen in Ägypten und anderen arabischen Ländern war es schon immer eine besonders schwer zu ertragende Demütigung, dass ein winziges Land mit wenigen Millionen Einwohnern sich der Übermacht anderer erfolgreich erwehrte. Die weniger Bornierten begannen früh, nach den Gründen zu fragen. Gamal Abdel Nasser, der spätere Präsident Ägyptens, führte bereits während der Feuerpausen im ersten arabisch-israelischen Krieg im Jahr 1948 den »Dialog der Kulturen« von Schützengraben zu Schützengraben.

Fast 60 Jahre später drängt sich eigentlich die Erkenntnis auf, dass sich Israel mit militärischen und terroristischen Mitteln nicht in die Knie zwingen lässt und seine Siege nicht allein der Überlegenheit seiner Armee verdankt. Als Diktatur hätte Israel diese Zeit wahrscheinlich nicht überstanden. Die arabischen Regierungen und die palästinensische Führung dagegen produzierten ein Desaster nach dem anderen, weil es niemanden gab, der die inkompetenten Machthaber hätte daran hindern können. Teils freiwillig, teils unter Zwang ordnete sich die Bevölkerung der »nationalen Einheit« unter. In vielen arabischen Ländern ändert sich das langsam, in den palästinensischen Gebieten dagegen ist der Konsenszwang fast ungebrochen.

Wenn Machtkämpfe ausbrechen, wie derzeit zwischen der Hamas und der Fatah, wird nicht über politische Ziele und Strategien oder auch die Verteilung der Pfründe debattiert, vielmehr versucht man zwanghaft, die »nationale Einheit« wiederherzustellen. Die Vorgabe lieferte das von inhaftierten Mitgliedern der Hamas und der Fatah erstellte »Dokument der nationalen Übereinkunft«, auf dessen Grundlage Präsident Mahmoud Abbas und Premierminister Ismail Hanija die Neuverteilung der Macht aushandelten.

Das Dokument schlägt hauptsächlich Maßnahmen vor, die den innerpalästinen­sischen Machtkampf in geregelte Bahnen lenken sollen. Es ist kein explizites Friedensangebot, nur zwei von 18 Artikeln beschäftigen sich mit dem Verhältnis zu Israel, und mit der Formulierung, der »Widerstand« solle sich auf die Westbank »konzentrieren«, wird die Möglichkeit von Anschlägen in Israel offen gehalten.

Die neue Machtverteilung könnte sogar ein Rückschritt sein. Denn die Integration der Hamas und des Islamischen Jihad in die PLO, der wohl wichtigste Punkt des Dokuments, lässt offen, welche Folgen dies für den palästinensischen Dachverband haben wird. Theoretisch würden die Islamisten mit dem Beitritt auch die von der PLO geschlossenen Verträge und Israel in den Grenzen von 1967 anerkennen. Angesprochen wird diese Frage jedoch nicht, zudem haben mehrere Vertreter der Hamas bestätigt, dass die Akzeptanz eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 nicht bedeute, dass man sich damit zufrieden geben werde.

Andererseits dürfte eine Einigung zwischen der Hamas und der Fatah terroristische Aktivitäten zumindest reduzieren. Die palästinensische Autonomiebehörde, die derzeit nicht einmal mehr ein offizielles Bankkonto hat, muss möglichst schnell die Akzeptanz der westlichen Geldgeber wieder gewinnen. Dass die Hamas sich in Zukunft gewissermaßen in der PLO versteckt, die gemeinsam mit Abbas für Verhandlungen mit Israel zuständig sein soll, könnte dabei hilfreich sein. Allerdings nur, wenn es nicht zu spektakulären Anschlägen kommt.

Das dürfte auch der Grund für die Entführung des 19jährigen israelischen Soldaten Gilad Shalit gewesen sein. Denn Streit gibt es auch innerhalb der Hamas, eine von Khaled Meshal geführte Fraktion ist wahrscheinlich für die Operation verantwortlich. Im April hatte Meshal der Fatah Kollaboration mit Israel und den USA zum Sturz der Hamas-Regierung vorgeworfen. Die Veröffentlichung des »Dokuments der nationalen Übereinkunft« im Mai bezeichnete er als erneuten Versuch, der Hamas die Macht zu entreißen.

Die Streitigkeiten sind keine Show für die internationale Öffentlichkeit, um Hanija als »Gemäßigten« zu präsentieren, dem man Finanzhilfe gewähren muss. Unterstützt vom syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, dessen innenpolitische Legitimation von der fortdauernden Konfrontation mit Israel abhängt, führt Meshal von Damaskus aus eine Fraktion der Hamas, die die einmal errungene Macht nicht aufgeben und auch nicht teilen will. Wenn die Politik mit der Fatah abgestimmt werden muss, begrenzt das den islamistischen Tugendterror. Die terroristischen Aktivitäten müssten dann der »nationalen Einheit« untergeordnet werden.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass diesmal nicht ein Selbstmordanschlag, sondern eine Entführung die Eskalation herbeiführte. Der Versuch, die Gefangenen freizupressen, in deren Kreisen das Projekt der »nationalen Übereinkunft« initiiert wurde, soll die Palästinenser darüber belehren, dass Gewalt der einzig richtige Weg ist. Kommt es zum Austausch, können die Entführer einen Sieg feiern. Sollte die israelische Armee doch noch in die Wohngebiete Gazas vorrücken, würde das die gewünschte Empörung in der palästinensischen und internationalen Öffentlichkeit provozieren, die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen wäre für längere Zeit unmöglich.

Dennoch hält der »nationale Konsens«, Abbas und Hanija können oder wollen die Freilassung der Geisel nicht erzwingen. Möglicherweise ist die Warlordisierung in Gaza so weit fortgeschritten, dass keine Kontrolle mehr möglich ist. »Einige Kommandanten erkennen weder Meshal noch die Chefs irgendeiner anderen Organisation als Führer an«, schreibt Zvi Bar’el in Ha’aretz. Die linksliberale Tageszeitung stellte ihr Editorial am Sonntag unter den recht deutlichen Titel »Die Regierung verliert den Verstand«, und damit war nicht die palästinensische, sondern die israelische Führung gemeint. Auch konservative Kommentatoren kritisierten die Strategie, durch Druck auf die palästinensische Zivilbevölkerung die Freilassung Shalits erzwingen zu wollen.

In der palästinensischen Gesellschaft dagegen gilt offene Kritik an militärischen und terroristischen Operationen noch immer als Verrat. Sich um ein einzelnes Menschenleben zu sorgen, ist aus der Sicht der Islamisten und vieler Nationalisten, die immer wieder 19jährige mit einem umgeschnallten Sprengstoffgürtel in den sicheren Tod schicken, nichts als Schwäche. Doch die vergangenen 60 Jahre haben bewiesen, dass das Gegenteil der Fall ist.