Chaostheorie und Praxis

Die Pariser Abendzeitung Le Monde sucht einen neuen Direktor. von bernhard schmid

Die Welt – französisch le Monde – drehte sich ein wenig weiter, und Jean-Marie Colombani flog dabei aus der Kurve. Der bald 59jährige Colombani führte seit 13 Jahren als Herausgeber und Unternehmenschef die Geschicke der Pressegruppe Le Monde, deren bedeutendste Publikation die gleichnamige Pariser Abendzeitung ist. Am Dienstag vergangener Woche verfehlte er die erforderliche Stimmenmehrheit im Redaktionsrat, die er für ein neues sechsjähriges Mandat als Direktor gebraucht hätte. Bis zum Wochenanfang schien er jedoch nicht zum Aufgeben entschlossen. In einem dramatischen Leitartikel, der in der Ausgabe vom Freitag erschien, beschwor er eine Krise, ähnlich ernst wie die, »die im Laufe der langen Geschichte unsere Zeitung zu destabilisieren, ja zu zerstören drohten«.

Ich oder das Chaos – so klingt seine Argumentation, obwohl er freilich hinzufügt, die Zukunft des Verlags liege nunmehr »in den Händen des Aufsichts­rats«, in dem die internen und externen Aktionäre vertreten sind. Dessen Entscheidungen werde er respektieren, »so ungerecht auch immer sie mir erscheinen mögen«. Das Aufsichtsratsmitglied Claude Perdriel, Chef des sozialliberalen Wochenmagazins Le Nouvel Observateur, führt unterdessen eine Kampagne für den Verbleib des Direktors auf seinem Posten an. Es gebe »keinerlei Grund dafür, dass Jean-Marie Colombani geht«. Die nächste Sitzung des Aufsichtsrats, die auf den 4. Juni verschoben wurde, verspricht also interessant zu werden. Dann soll entweder Colombani im Amt bestätigt oder aber, wenn eine Einigung darüber gelingt, sein Nachfolger bestimmt werden.

Zuvor hat Colombani bei der Redaktionsabstimmung der Société des rédacteurs du Monde (SRM), eine Mischung aus Selbstverwaltungsorgan und Personalrat, die Mehrheit deutlich verfehlt. Statt der notwendigen 60 Prozent der Stimmen erhielt er nur 48,5 Prozent.

Wie Gottvater habe er an der Spitze des Medienkonzerns amtiert, autoritär-paternalistisch geschaltet und gewaltet, meinen Kritiker. Der korsischstämmige Colombani, der im westafrikanischen Dakar – damals noch ein Verwaltungssitz des französischen Kolonialimperiums – zur Welt kam, hält dagegen, er habe die ökonomische und dadurch auch die journalistische Unabhängigkeit der Zeitung bewahrt. Und zwar in Zeiten, da die Kapitalkonzentration auch im Pressesektor erheblich zunimmt, ebenso wie die Investitionstätigkeit fachfremder Unternehmen und Konzerne. So gehört inzwischen rund ein Drittel der französischen Presse dem Flugzeugbauer und Rüstungsindustriellen Serge Dassault und ein weiteres Drittel dem in ähnlichen Bereichen tätigen Mischkonzern von Arnauld Lagardère, der auch beim europäischen Rüstungs- und Luftfahrtkonzern EADS mitmischt.

Die Tatsache, dass mit ihm ein Journalist an der Spitze der Unternehmensgruppe stand, diente Colombani ebenso als Argument für seine Politik wie die bisherigen Garantien für die Unabhängigkeit der Redaktion. Dazu zählt, dass die Personalvertretung der Redakteure weder von einer Aufsichtsratsmehrheit noch von den übrigen Beschäftigten überstimmt werden kann. Ein Modell, von dem sich die Unternehmensführung in eben diesem Augenblick zu verabschieden scheint.

Zu Colombanis Strategie zählte ein aggressiver wirschaftlicher Expansionskurs, der von der Pariser Abendzeitung ausging: »Bevor andere uns fressen, werden wir selber grob und fressen wiederum andere Presseorgane auf«, lautete dabei die Unternehmensphilosophie. Zählt Le Monde rund 600 Beschäftigte, so beschäftigt der gesamte Medienkonzern inzwischen rund 3 000 Mitarbeiter.

Aber diese Operationen wurden teilweise mit ungedeckten Schecks finanziert. Denn Le Monde verfügte nicht über ausreichend Liquidität, sondern verließ sich rechnerisch auf das, was die aufgekauften Publikationsorgane wirtschaftlich abwerfen sollten. Auf diesem Wege häufte der Konzern Schulden in Höhe von rund 100 Millionen Euro an. Vielen Redakteuren wurde Colombanis Strategie aus diesen Gründen allmählich unheimlich: zu riskant, zu teuer, zu schuldenträchtig.

Überdies wurden die Aufkäufe und Übernahmen zwar im Namen der Unabhängigkeit der Presse von den Großkonzernen getätigt, trugen aber indirekt dazu bei, diese zu stärken, da Le Monde in ihnen wichtige Kooperationspartner die eigene Strategie entdeckte. Um das von ihm gewünschte große regionale Presseimperium in Südfrankreich zu realisieren, strebte Colombani wechselseitige Beteiligungen zwischen »seinem« Unternehmen Midi Libre und den Filialen des Hachette-Konzerns – das ist die Pressesparte im Imperium La­gardères – an. Hachette gehören La Provence in Marseille sowie Nice-Matin in Nizza. Statt mehr wird es also zukünftig weniger Pressevielfalt geben.

Zugleich kommt auch die Frage der politischen Positionierung von Le Monde auf, auch wenn sie bisher nur implizit gestellt wird. Die Pariser Abendzeitung hat eine lange Tradition der Unabhängigkeit von Regierungen und wurde deshalb mitunter nicht sonderlich von ihnen geliebt.

Im Algerienkrieg wurde das Blatt mehr als 20 Mal vom Staat beschlagnahmt. Gefährdet war diese unabhängige regierungskritische Position erstmals, als 1981 der Sozialist François Mitterrand zum Präsidenten gewählt wurde.

Aber Le Monde ist noch immer eine Zeitung, in der sich fundierte Informationen über alle wichtigen politischen und gesellschaftlichen Strömungen finden, und ein Forum, das die Vertreter fast aller Strömungen zu Wort kommen lässt. Auch wenn das Profil der Zeitung eher bürgerlich ist, so kommt es doch vor, dass ein Gastbeitrag von einem Mitglied der anarchosyndikalistischen CNT oder der trotzkistischen LCR abgedruckt wird. Lediglich die extreme Rechte kommt grundsätzlich nicht mit eigenen Autoren zu Wort, es wird aber regelmäßig über sie berichtet, wobei auf die Qualität der Informationen und Analysen geachtet wird. Insofern ist Le Monde eine im besten Sinne liberale Zeitung.

Aber in den vergangenen Jahren hat sie unter Führung Colombanis ihre kritische Distanz zur Politik insofern aufgegeben, als sie erstmals eindeutig bei Wahlkämpfen zugunsten bestimmter Kandidaten eingriff. 1995 unterstützte die redaktionelle Linie implizit die Kandidatur Jacques Chiracs. In diesem Jahr konnte man eine ungewohnt offene, explizite Unterstützung für die Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal erleben, mit einem von Jean-Marie Colombani gezeichneten Leitartikel, der klipp und klar Partei ergriff.

Mutmaßlich entspricht es seiner Strategie, dass ein expandierendes Unternehmen auch politische Partner – möglichst mit Aussicht auf Regierungsfähigkeit – benötigt. An der Seite Nicolas Sarkozys war dabei nicht viel zu holen, da dieser ohnehin eine Reihe von Duzfreunden an der Spitze führender Medienkonzerne hat und auch mitunter offen in deren Berichterstattung eingriff. In den eigenen Reihen musste die politische Positionierung der Zeizung aber Widersprüche hervorrufen, da die Redaktion noch immer politisch heterogen zusammengesetzt ist. Das reicht vom thatcheristischen Wirtschaftsredakteur und Leitartikler Eric Le Boucher, dem die Reformversprechen Sarkozys zu schlapp ausfallen, bis zum Gewerkschaftsspezialisten Rémi Barroux, der zur radikalen Linken gehört. Eine einheitliche Positionierung wird dadurch erschwert. Auch Colombanis Wahlkampfhilfekönnte ihm den Vertrauensverlust eingebracht haben.