Die passive Revolution

Warum findet in kapitalistischen Staaten kein Umsturz statt? Antonio Gramscis Hegemonietheorie hat Antworten auf diese Frage. von daniel keil

Große Werke sind häufig unter Bedingungen entstanden, die mit »widrig« eher verharm­losend bezeichnet wären: Exil, Flucht oder Gefängnis, Armut oder Krankheit, manchmal auch vieles davon zusammen. Daher sind viele Schriften, die erheblichen Einfluss gewonnen haben, fragmentarische Sammlungen, deren Systematisierung nie vollzogen wurde. Zugleich waren die Autoren jeweils spezifisch gesellschafts­politisch aktiv.

Aus dieser Konstellation ergibt sich der Grund für die Wirkungsmacht gerade Fragment gebliebener Schriften. Denn so entsteht jeweils eine Bindung an zeitbedingte Problematiken emanzipatorischer Bestrebungen, d.h. ein anders an die Realität gekoppeltes Nach­denken, als es in von vornherein auf Systematik ausgelegten Schriften möglich wäre. Vielleicht wäre auch die höhere Sensibilität des rohen Gedankens, der noch nicht geschliffen wurde, zu benennen.

Zumindest gehört auch das Werk des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci in diese Kategorie. Er schrieb unter den unmenschlichen Bedingungen der Inhaftierung im faschistischen Gefängnis, an deren Folgen er kurz nach seiner Freilassung vor 70 Jahren starb. Viele Überlegungen in den »Gefäng­nisheften«, die erst seit wenigen Jahren vollständig in deutscher Übersetzung zugänglich sind (Jungle World 10/01), zeitigten große Wirkungen. Vor allem Gramscis Konzeption des integralen Staates verbun­den mit seiner Hegemonietheorie wurden und wer­den stark rezipiert. Dabei muss allerdings immer beachtet werden, dass er diese Konzeptionen aus der Frage entwickelte, warum in den kapitalistischen Staaten noch keine Revolution stattgefunden hat. Oder umgekehrt: Wo liegen die Möglichkeiten revolutionärer Bewegungen? Der von Sonja Buckel und Andreas Fischer-Lescano herausgegebene Sam­melband »Hegemonie gepanzert mit Zwang« versucht, genau hier anzuschließen.

Ausgangspunkt ist die Feststellung der Herausgeberinnen, dass es kein systematisch einleitendes Werk im deutschsprachigen Raum gibt, welches sowohl in Gramscis Staatskonzeption als auch in die vielfältigen Weiterentwicklungen einführt. Die­se Lücke soll mit dem Band geschlossen werden, auch mit explizitem Rückgriff auf Gramscis Emanzipationsperspektive. Bemerkenswert dabei ist, nebenbei bemerkt, dass der Band in der Reihe »Staatsverständnisse« des Nomos-Verlags erscheint, in der ansonsten bisher ausschließlich bürgerliche Staatstheorien verhandelt werden. Die Perspektive eines »Absterben des Staates« ist durchaus ungewöhnlich in der deutschen Wissenschaft. Die Emanzipations­perspektive wird jedoch in vielen Beiträgen aus der Sicht der jeweiligen »Disziplin« thematisiert. Die Zusammenstellung der Beiträge orientiert sich am Anspruch, der oben formuliert wurde.

Im ersten Teil werden sowohl Gramscis Staatstheorie als auch deren Weiterentwicklungen und auch Leerstellen, die vor allem Geschlechterverhält­nisse betreffen, erläutert. Der zweite Teil besteht aus Darstellungen von Anschlussmöglichkeiten innerhalb der Rechts- und Demokratietheorie. Den Abschluss bilden Beiträge zu Fragen der Internationalisierung von Staatlichkeit und den dortigen Einsatzmöglichkeiten der Begriffe Gramscis.

Interessant wird es immer dann, wenn die üblichen politikwissenschaftlichen Übungen verlassen werden. D.h. immer dann, wenn es darum geht, den revolutions­theoretischen Gehalt auf seine Aktualität zu überprüfen. Prinzipiell gehen alle Beiträge davon aus, dass sich der Kapitalismus in seiner Gän­ze seit den siebziger Jahren in starken Wandlungsprozessen befindet. Diese werden charakterisiert als Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung und als Internationalisierung der Produktion und staatlicher Institutionen. Kurz gesagt werden sie als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus gefasst.

Damit verändere sich ebenfalls das Verhältnis von Hegemonie und Zwang, da die Subalternen immer weniger mittels materieller Zugeständnisse eingebunden werden. Dieser Prozess könne als passive Revolution erfasst werden. Der Begriff der passiven Revolution ist dabei vielschichtiger als jener der Konterrevolution.

Stephan Adolphs und Serhat Karakayali zeichnen in ihrem Beitrag zu Gramscis Revolutionskonzept mehrere Dimensionen des Begriffs nach. Wichtig ist, dass in der passiven Revolution die ökono­mischen und politischen Verhältnisse transformiert werden, ohne dass sich grundsätzliche Ände­rungen im Verhältnis der Regierten zu den Regieren­den ergeben. Ebenso wird darunter die passive Neustrukturierung der Produktionsweise gefasst. Gramsci entwickelt dies im Zusammenhang mit der Hegemonie-Theorie und der daraus folgenden Annahme, dass die revolutionäre Bewegung in den westlichen Staaten einen Stellungskrieg um die Hegemonie zu führen hätte. Ein Bewegungskrieg, also das Überrennen der Staatsmacht wie in der russischen Revolution, käme für den Westen nicht in Frage.

Während die passive Revolution den Stellungskrieg der herrschenden Klassen meine, könne der Kampf der Subalternen als passive Anti-Revolution oder als antipassive Revolution begriffen werden. Die Autoren thematisieren dieses Spannungsverhältnis mit Blick auf den Alltag und gehen mit Gramsci davon aus, dass die Hegemonie aus der Fabrik komme. D.h. dass mit der Vorherrschaft einer bestimmten Art der Produktion jeweils bestimmte Formen der Subjektivität verbunden sind. Der Fordismus zeichnete sich in dieser Hinsicht durch vielfältige Momente der Passivierungen aus. Die Revolte von 1968 stellte dem Neuartiges entgegen.

Sie war, schreiben sie, »eine ›Aktivierung der Subalternen‹, eine Mobilisierung ihrer schöpferischen Potenziale«. Das bedeutete vor allem die Ablehnung des muffigen Kleinfamiliendaseins sowie des damit verbundenen Modells der lebenslangen Lohnarbeitsanstellung. Daraus resultierten viele praktische Experimente, wel­che das Alltagsleben stark veränderten. Wohnprojekte, Selbsthilfeinitiativen, der Wunsch nach selbständiger Arbeit und das langsame Aufbrechen des Lohnarbeitsmodells markierten die durch die Revolte hervorgebrachte neue Subjektivität.

Diese Entwicklung fiel genau in die Zeit der stockenden Verwertung des Kapitals. In den Versuchen, die Krise des Kapitals zu überwinden, wurde jene neue Subjektivität allerdings zur Grundlage einer neuartigen Formierung. Der starre Fordismus musste dazu aufgebrochen werden, was gerade auf der Ebene der Mikrostrukturen des Alltags eine Folge der Revolte war. Diese »Kooptation« molekularer »Alltagspraxen« in die Verwertungszusammenhänge bezeichnen die Autoren als »molekularen Transformismus«. D.h. dass die »Praxen« der vermeintlichen Befreiung aus dem Muff, die zu Mobilität, Flexibilität, also zur Aktivierung der Subjekte führten, in die Kapitalverwertung integriert wurden.

Das Problem, dass sich damit aus revolutionstheoretischer Perspektive ergebe, hängt nun genau mit dem Verhältnis von Aktivierung und Passivierung der Subjekte zusammen. Die antipassive Revolution als gegenhegemoniales Projekt müsse als Aktivierung der Subalternen gedacht werden.

Allerdings findet diese Aktivierung mittels der »Kooptation« in der Form des Kapitals statt. Anstatt zur Erweiterung von Autonomie, dem Ziel der Revolte, komme es zu einer Steigerung der Formen ökonomischer Abhängigkeit. Insofern stellt die Aktivierung gerade eine Form der Passivierung dar.

Damit verändern sich die Verhältnisse von Subjektivierung und Produktion und die daraus resultierende Hegemonie. Dies sei ein entscheidendes Spannungsfeld für die Möglichkeit einer emanzipatorischen, antipassiven Praxis. Diese muss neue Formen jenseits des Bestehenden finden, ohne sich aber außerhalb desselben stellen zu können. Eine solche Praxis könne daher weder durch die Formierung von Kollektivsubjekten noch durch die ökonomische Aktivierung des Individuums erreicht werden.

Insofern können die Beiträge des Sammelbandes hilfreich sein, um über die Komplexität der Verhält­nisse und die Möglichkeiten von Praxis nachzuden­ken. Gerade in Zeiten der Vereinfachungen kann dies nicht schaden.

Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano (Hrsg): Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2007, 209 S., 29 Euro