Bote und Botschaft

Auch der linke Journalismus ist abhängig von den globalen Nachrichtenproduzenten. Ist eine internationalistische Berichterstattung überhaupt möglich? von jörn schulz

Etwa vier Wochen benötigte der reitende Bote für den Weg nach Wien. Deshalb erfuhren die Wiener erst Ende Juni, dass die Osmanen am 29. Mai 1453 Konstantinopel erobert hatten. Es war zu spät, um etwas dagegen zu tun, und eigentlich sogar zu spät, um sich darüber aufzuregen. Da der Buchdruck erst einige Jahrzehnte später erfunden werden sollte, wurde die Nachricht mündlich weitergegeben, die meisten Menschen erfuhren nur von der Eroberung und hörten einige Gräuelgeschichten.

Der Soulmusiker Gil-Scott Heron prophezeite 521 Jahre später: »The revolution will not be televised«. Tatsächlich hatte CNN noch keine Gelegenheit dazu, denn seit die globale Live-Berichterstattung um 1990 etabliert wurde, gab es keine Revolution. Doch über jedes Ereignis auf diesem Planeten werden wir sofort informiert, sofern es den Nachrichtenproduzenten berichtenswert erscheint.

Zweifellos war keine Generation in der Geschich­te der Menschheit so gut informiert, wie wir es sind. Doch die Flut zumeist unerfreulicher Nachrichten kann nicht nur dazu führen, dass man die Menschen früherer Epochen manchmal um ihre Unwissenheit beneidet. Es ist auch fraglich, ob die Menge an Nachrichten, ergänzt um Bilder, Videos, Kommentare und Blogs, tatsächlich ein realistisches Bild der Welt vermitteln.

Wen repräsentieren die Medien? Wie wird aus einem Ereignis eine Nachricht? Und wie unterscheidet sich linker Journalismus von der bürgerlichen Nachrichtenproduktion?

In den Ausgaben 24 und 25 der Jungle World konn­ten Sie lesen, dass in Goma im Osten des Kongo immer wieder Studenten von der Polizei erschos­sen werden. Geschähe dergleichen in Berlin oder New York, würde es weit größere internationale Aufmerksamkeit erregen. Den Medien Rassismus vorzuwerfen, greift zu kurz. Der Mord an einem Afrikaner in Brandenburg wird zur Kenntnis genommen, während niemand davon Notiz genommen hätte, wenn er in seinem Herkunftsdorf getötet worden wäre.

Die globale Nachrichtenproduktion wird von einigen Agenturen, BBC und CNN sowie einer überschaubaren Zahl von Tageszeitungen dominiert, die mit Ausnahme der Le Monde alle englischsprachig sind. Diese Medien gelten als seriös und zuverlässig, für gewöhnlich sind sie das auch. Dennoch gibt es eine Voreingenommenheit, sie besteht in der Regel nicht in gezielten Manipulationen oder Fälschungen, sondern in einer Sichtweise, die die kapitalistische Normalität für das Maß aller Dinge hält und weiterhin national geprägt ist.

Am deutlichsten ist dies bei den Zeitungen, die weiterhin für ein nationales Publikum erscheinen. Doch auch bei der BBC nimmt die Berichterstattung über Großbritannien und Themen, die vornehmlich Briten und Bürger des Commonwealth interessieren, recht großen Raum ein. Und CNN unterstützt zwar nicht, wie häufig behauptet wird, vorbehaltlos den Irak-Krieg. Doch den US-amerikanischen Opfern wird weit größere Aufmerksamkeit zuteil als den Toten auf irakischer Seite.

Die globalen Medien sind, mit Ausnahme der öffentlich-rechtlich organisierten BBC, im Besitz von Privatunternehmen. Da unter den kaufkräftigen Schichten der Weltbevölkerung mittlerweile Nichtweiße die Mehrheit sind, gibt es für Asien, Lateinamerika und Afrika bei BBC und CNN Sonder- und Spartenprogramme sowie speziell auf diesen Kundenkreis zielende Werbung. Vermutlich werden Tageszeitungen mit internationaler Verbreitung diesem Trend folgen. Doch ein kongolesischer Unternehmer interessiert sich eher für die Börsenkurse in New York und Shanghai als für die Ereignisse in Goma. Wie seine Geschäftspartner in London und Kapstadt hält er einen Streik für eine Störung des Wirtschaftslebens, die so schnell wie möglich beendet werden muss.

Der Anspruch, es völlig anders zu machen und so etwas wie die Stimme der Armen und Entrechteten zu sein, wäre für eine linke Zeitung vermessen. Auch die Jungle World erscheint ja für überwiegend nicht gerade reiche, aber doch kaufkräftige Leser. Einen linken und emanzipatorischen Journalismus kann es im Kapitalismus gar nicht geben, ebensowenig wie ein Leben ohne ökonomische und gesellschaftliche Zwänge. Denn eigentlich gibt es aus rätedemokratischer Sicht keinen Grund, dem G8-Gipfel größere Bedeutung zuzumessen als einer Studentenversammlung in Goma.

Die Nachrichtenproduktion spiegelt die globalen Machtverhältnisse wieder, und sie wirkt wieder auf diese Verhältnisse ein. Viele Ereignisse, vom G8-Gipfel bis zum Terroranschlag, werden mittlerweile vor allem für die Medien inszeniert. Die big news zu ignorieren, weil man die Macht­strukturen und Klassenverhältnisse ablehnt, aus denen sie hervorgehen, ist keine Lösung. Deshalb sind auch wir abhängig von den globalen Nachrichtenproduzenten. Denn sie bestimmen weitgehend, was in der Welt und auch in der Linken wahrgenommen und diskutiert wird. Dies zu ignorieren, würde bedeuten, die kapitalistische Realität zu ignorieren.

Linker Journalismus kann daher nur eine Annäherung an das sein, was eigentlich wün­schenswert ist: auch jenen Themen Raum zu geben, die anderswo gar nicht oder nur am Rande vorkommen, materialistisch und ideologiekritisch analysieren, kritisieren, fragen, wie Befreiung in einer Epoche eines scheinbar unangreifbaren Kapitalismus aussehen kann und was dem im Wege steht. Und natürlich auch unterhalten und Freude bereiten, denn linke Politik sollte hedonistisch und nicht puritanisch sein.

Die Jungle World hat keine festgelegte strategische Linie. Doch von Anfang an gab es zentrale Themen, an denen wir dann im Laufe der Jahre gearbeitet haben. »Wir wollen etwas verwirklichen, was es noch nie in der Geschichte gegeben hat« hätte auch unser Motto sein können. War es aber nicht, vielmehr wurde mit diesem Zitat, das vom kambodschanischen Regime der Roten Khmer stammt, das erste Titelthema aus der internationalen Politik in der Home Story angekündigt.

Nicht jede Neuerung ist eine Verbesserung. »Heraus kam ein völkischer Agrarkommunismus und wenig Sex«, urteilte die Jungle World (31/97) über das Regime Pol Pots. »Mehr Aufmerksamkeit schenken wir den Kämpfern, die sich zuerst im Lacandonischen Regenwald, jetzt auf dem ›Intergalaktischen Treffen für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus‹ in Spanien berieten«. Das Dossier in dieser Ausgabe war den Zapatisten gewidmet.

Die Kritik an völkischem Denken in der Linken und am Stalinismus wurde der Jungle World durch ihre Entstehungsgeschichte in die Wiege gelegt. Sie führt zwangsläufig zu der Frage, wie der Kampf gegen Staat und Kapital emanzipatorisch geführt werden kann. Die Berichterstattung über soziale Kämpfe war immer ein Schwerpunkt. Neue Ansätze wurden vornehmlich in Lateinamerika erkennbar, wo sich viele linke Bewegungen von alten Dogmen lösten und neue Formen der Politik erprobten. Manche von ihnen haben genug Einfluss, um Regierungen zu stürzen oder Präsidentschaftskandidaten zu einem Wahlsieg zu verhelfen.

Doch mit dem Einfluss wächst auch der Anpassungsdruck, denn eine linke Regierung, die im kapitalistischen Rahmen agiert, kann nur umverteilen und für soziale Verbesserungen sorgen, nicht aber die Produktionsverhältnisse ändern. Die Entwicklung der lateinamerikanischen Linken, das Verhältnis zwischen außerparlamentarischer Opposition und linken Regierungen diskutiert Wolf-Dieter Vogel in dieser Ausgabe.

Das zweite internationale Thema auf der Titelseite war der Bürgerkrieg in Algerien. Die Auseinandersetzung mit Islamismus, Staatsislam, Antisemitismus und Nationalismus hat seitdem noch an Bedeutung gewonnen. Da es in den meisten islamischen Ländern keine relevante emanzipatorische Linke gibt, ist in der politischen Praxis die bürgerliche Demokratie die einzige Alternative zu Autokratie, Diktatur und islamistischem Tugendterror. Nach dem Krieg im Irak wurde der institutionelle Rahmen der parlamentarischen Demokratie geschaffen, und die Mehrheit der Bevölkerung beteiligte an den Wahlen, doch von einer De­mokra­tisierung und Säkularisierung der Gesellschaft kann nicht die Rede. Die Entwicklung des Nahen Ostens in den vergangenen zehn Jahren, die Probleme nach dem Sturz Saddam Husseins und die Chancen der Demokratisierung erörtern Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken.

Westliche Truppen kämpfen in der Regel nicht mehr, wie noch in Vietnam, für rechtsextreme oder autoritäre Regimes. Eine Kritik an Mili­tärinterventionen, die nicht berücksichtigt, gegen wen sie sich richten, was geschehen würde, wenn sie unterblieben, und welche Alternativen denkbar wären, ist bestenfalls pazifistisch, aber nicht internationalistisch. Andererseits haben sich die westlichen Staaten und die Uno als unfähig zum nation building erwiesen, und in den Bürgerkriegsgesellschaften dominiert die Apathie.

In diesem politischen Kontext erscheint die Figur des Warlords. Im Juli 1997 berichtete Peter ­Böhm über die Präsidentschaftswahlen in Liberia, die der Warlord Charles Taylor gewon­nen hatte. Das war der Höhepunkt der Karriere Taylors, seinen Abstieg, der ihn über das nigerianische Exil in eine niederländische Gefängniszelle führte, haben wir verfolgt. Taylor steht beispielhaft für den Typus des Kriegsunternehmers, der den Zerfall eines Nationalstaats nutzt. Anders als bei ihren Vorgängern im Frühkapitalismus, die mit ähnlichen Methoden die Voraussetzungen für die Akkumula­tion schufen, fußt die Macht moderner Warlords auf dem Scheitern der kapi­talistischen Vergesellschaftung.

Wenn der Kapitalismus nicht auf emanzipatorische Weise überwunden wird, könnte die neofeudale Herschaft der Warlords ihn ablösen, nicht nur in Afrika. Oder wird es den Menschen in Bürgerkriegsstaaten doch noch gelingen, den neuen Verhältnissen angemessene Organisationsformen zu finden und das nation building selbst in die Hand zu nehmen?

Führt der »Neoliberalismus« zu einer Weltwirtschaftskrise, eventuell zu einem Ende der Globalisierung? Werden die Nationalstaaten dann nach Autarkie streben und auch derzeit Verbündete gegeneinander Krieg führen? Welche Rolle wird China spielen, welche der Iran?

Oder folgt auf die wirtschaftsliberale Epoche eine Renaissance des Keynesianismus, eine neue Wachstumsphase, die weitere Teile der Weltbevölkerung zu kaufkräftigen Kunden macht? Sind Hugo Chávez und Oskar Lafontaine also möglicherweise Protagonisten einer erneuerten autoritären Sozialdemokratie? Wird sich eine radikale Linke dann gegen sie wenden?

Das sind einige der Fragen, die uns in Zukunft beschäftigen werden. Eine eindeutige Antwort können wir Ihnen nicht versprechen. Aber es wird spannend bleiben.