Das deutsche Problem

Wer bestimmt in Europa? Diese Frage stellt nicht mehr die globalisierungskritische Linke, sondern die ultranationalistische polnische Regierung. von anton landgraf

Die größten Widersacher Deutschlands in Europa sind klein, gedrungen und erscheinen wie zwei Mondgesichter. Im Kampf gegen den Feind im Westen sind sie zu allem bereit: Selbst während der heftigen diplomatischen Aus­ein­ander­setzun­gen Ende vergangener Woche beim Verfassungsgipfel in Brüssel ließen der polnische Präsident Lech und sein Bruder, Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, keine Zweifel aufkommen. Europa sei für die Regierung in Berlin nur ein Mittel, um endlich die alten deutschen Großmachtbestrebungen zu realisieren.

Die Frage, ob Deutschland durch die Integration in die EU europäischer oder ob Europa deutscher werden würde, hat auch die Jungle World in den vergangenen zehn Jahren oft beschäftigt – eine Frage, die ebenso häufig zu unterschiedlichen Einschätzungen führte.

In den Jahren vor der Währungsunion und in einer Zeit, als westlich von Oder und Neiße kaum jemand die Gebrüder Kaczynski kannte, hoffte ein kleiner Teil der Linken, dass über die Einbindung in die EU der verhängnisvolle deutsche Sonderweg beendet werden könnte. »Ich bin für eine gemeinsame europäische Währung, weil ich gegen ein deutsch dominiertes Europa bin«, meinte etwa 1997 der Grünen-Politiker Jürgen Trittin in der Jungle World (34/97). Mit dem Euro sei der Versuch einer Instrumentalisierung der Währungsunion für ein deutsch dominiertes Euro­pa zum Scheitern ver­urteilt. Mit der Ein­bindung Deutschlands in die EU könne seine Macht begrenzt und besser kontrolliert werden (Jungle World 37/98).

Dass die EU jedoch auch eine Plattform für eine selbständige nationale deutsche Politik sein kann, demonstrierte wenig später ausgerechnet die neue rot-grüne Re­gierung. Spätestens mit Beginn des Kosovo-Kriegs 1999 hatte sich die Frage, welche Rolle Deutschland innerhalb der EU spielen würde, dramatisch geändert. Der »Abschied vom deutschen Sonderweg«, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder es bei seinem Regierungsantritt formulierte, mündete in die Aussage von Außenminister Joseph Fischer, dass Deutschland gerade wegen Auschwitz zur militärischen Intervention verpflichtet sei.

Der Kosovo-Krieg schien jene zu bestätigen, die in der EU die Voraussetzung dafür sahen, Deutschland endgültig in eine hegemoniale Posi­tion zu bringen. Manche Autoren der Jungle World wie Jürgen Elsässer forderten damals deswegen unbedingte Solidarität mit dem ehemaligen Jugoslawien: Eine Kritik des serbischen Nationalismus müsse angesichts des Krieges zurückstehen – eine Interpretation, die wenig später bis zu einer unverblümten Unterstützung rechtsnationalistischer Parteien in Südosteuropa führen sollte.

Der Kosovo-Krieg markierte aber noch einen weiteren Einschnitt. Der jugoslawische Bürgerkrieg demonstrier­te das offensichtliche Unvermögen der EU, eine halbwegs geeinte außen­politische Position zu formulieren, sowie die unzureichenden Kapazitäten, um einmal gefasste Beschlüsse notfalls auch militärisch durch­zusetzen. Über diese Fähigkeiten verfügten nur die USA. Entsprechend vehement begann die EU, ihre militärischen Ins­titutionen auszubauen – womit sie zumindest indirekt die US-amerikanische Führungsrolle in Frage stellte.

Für viele Kritiker der EU spielten geopolitische Aspekte bis zu diesem Zeitpunkt jedoch eher eine Nebenrolle. Ihre Proteste richteten sich vor allem gegen die soziale und wirtschaftliche Dyna­mik, die sie in der Union vermuteten. Für sie bedeutete die EU in erster Linie eine forcierte Deregulierung auf europäischem Niveau, und die Maastrichter Kriterien betrachteten sie als ein Instrument im Klassenkampf von oben. »Mit dem Euro gewinnt die neoliberale Philosophie materielle Gewalt in Europa«, behauptete etwa der damalige PDS-Vorsitzende Lothar Bisky. Die EU-Gipfeltreffen schienen solche Thesen zu bestätigen, etwa als 1999 in Lissabon beschlossen wurde, alle sozialen und wirtschaftlichen Bereiche zu liberalisieren.

Zusätzlichen Auftrieb erhielt die Kritik an der neoliberalen Ausrich­tung der Union durch die entstehende globalisierungskritische Bewegung, die zum ersten Mal 1999 beim WTO-Treffen in Seattle auf sich aufmerksam machte. Die Dynamik der neuen Bewegung dominierte nach und nach die inhaltlichen Debatten der Europa-Skeptiker. Bald war auch für sie die EU nur eine Filiale des globalisierten Kapitalismus, der die Nationalstaaten auflöse und sie durch eine weltweite Herrschaft der Konzerne ersetzen würde. Deutschland und die Frage nach seinen hegemonialen Ansprüchen spielten nur noch eine nebensächliche Rolle.

Die inhaltliche Kritik, die, begleitet von heftigen Straßenschlachten, auf dem EU-Gipfel 2001 im schwedischen Göteborg vorgebracht wurde, unterschied sich daher kaum von den Protesten gegen das wenige Monate später stattfindende G8-Treffen in Genua. Beide Konferenzen stan­den für die Aktivisten in einem engen Zu­sammenhang. Der linke Widerstand rich­tete sich nicht mehr spezifisch gegen die Union, sondern gegen einen globalisierten Kapitalismus, dessen Avantgarde in den USA gesehen wurde.

Die Ereignisse in Genua stellten dabei sowohl inhaltlich als auch bewegungspolitisch einen Bruch in der linken Anti-EU-Politik dar. Die Wahl von George W. Bush zum US-Präsidenten, spätestens aber die Anschläge des 11. September 2001, führten zu einer neuen Sicht auf Europa: Die EU wurde nun als potenzieller Gegenpol zu einer von den USA dominierten Globalisierung verstanden.

Diese Interpretation setzte sich mit dem Irak-Krieg endgültig durch. Da sich der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Präsident Jacques Chirac plötzlich als Kriegsgegner profilierten, wurde das »alte Europa« – allen voran die vermeintlich pazifistische Regierung in Berlin – positiv wahrgenommen. Auf den großen Friedensdemonstrationen im Februar 2003 tauchten Deutschland-Flaggen auf, sogar Porträts von Gerhard Schröder wurden neben Plakaten von Che Gue­vara umhergetragen. »Am Samstag, dem 15. Fe­bruar, ist auf der Straße eine Nation geboren worden«, erklärte damals pathetisch der ehemalige fran­zösische Wirtschafts- und Finanzminister Domi­nique Strauss-Kahn. »Diese Nation ist die europä­ische Nation.«

Zeitweilig schien alles, was die Linke kritisiert hatte, vergeben und vergessen. Nun galt Europa als historisches Projekt, das neue Chancen bot. Dass Europa aber nur dann ernsthaft mit den USA konkurrieren kann, wenn es seine »neoliberalen« Ziele, wie auf dem Gipfel in Lissabon formuliert, konsequent verfolgt, spielte erst wieder in der Debatte um den Europäischen Verfassungsentwurf eine größere Rolle.

So wurde das Scheitern der Referenden in Frank­reich und den Niederlanden von vielen euphorisch begrüßt, weil darin eine Chance gesehen wurde, den neoliberalen und militärischen Charakter der Union zu verändern. »Wie kann man Widersprüche aufgreifen und zuspitzen? Wie kann das ›Nein‹ zur Ver­fassung in ein ›Nein‹ zu den Verhältnissen radikalisiert werden?« fragte etwa die Gruppe Lif:t (Jungle World 23/05).

Dass diese »Widersprüche« in weiten Teilen Euro­pas schon längst radikalisiert wurden, wenn auch auf andere Weise als in ihrem Sinne, war der radika­len Linken allerdings entgangen. Denn in den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten spielte sich seit einigen Jahren ein Transformations­prozess ab, der die sozialen und wirtschaftlichen Wider­sprüche im Westen fast harmlos erscheinen ließ. Mindestens 30 Prozent der polnischen Bevölke­rung, vor allem in der Landwirtschaft und der Schwer­industrie, sind auf dem europäischen Bin­nen­markt schlicht überflüssig. Ähnlich groß ist der Anteil der Habenichtse in Rumänien, der Slowakei oder Bulgarien. Nach dem EU-Beitritt erhielten in diesen Ländern alle Parteien enormen Zulauf, die die sozialen Fragen mit den so genannten nationalen Interessen verbanden (Jungle World 37/06).

Die EU verkörpert für diese neuen Rechts­populisten nicht nur eine ökonomische Bedrohung, sondern auch eine tief greifende moralische Zersetzung. Dass diese Propaganda nicht nur im Osten, sondern auch im Westen bestens funktioniert, zeigt der große Einfluss des rechtsextremen Front National bei dem gescheiterten französischen Referendum.

Besonders virtuos beherrschen die polnischen Gebrüder Kaczynski die Fähigkeit zur nationalen Mobilmachung. Sie kombinieren erfolgreich die wirtschaftlichen Ängste mit einer ver­meintlichen Abwehr »unpolnischer« Werte, wie sie etwa bei den »Teletubbies« vermutet wurden. Die Kinderbeauftragte der polnischen Re­gierung, Ewa Sowinska, ließ vor wenigen Wochen die beliebte Kinderserie auf heimliche ho­mosexuelle Botschaften untersuchen. Der Grund dafür war: Die Figur Tinky Winky, angeblich ein Junge, trägt eine Handtasche mit sich herum.

In einem anderen Punkt hingegen ist die Kritik der Zwillingsbrüder weniger leicht ins Reich des Irrationalen zu verweisen – insbesondere ihr Hinweis, dass Deutschland der Hauptnutznießer der EU-Osterweiterung sei. Die EU ist mit Abstand der wichtigste Absatz­markt der exportorientierten deutschen Wirt­schaft. Zudem dominieren deutsche Unterneh­men heute etliche Sektoren der osteuropäischen Ökonomien. Die Ängste der polnischen Nationalisten sind daher nicht aus der Luft gegriffen. Die Antworten, die sie darauf geben, sind jedoch ebenfalls zum Fürchten. In ihrer beschränkten Sicht nehmen sie Nationen nur als organische »Volksgemeinschaften« wahr und europäische Politik als schicksalhaften Kampf zwischen völkischen Interessen. Zur Ironie der Geschichte gehört allerdings auch, dass ausgerechnet die ultranationalistische Kaczynski-Regierung eine Frage auf die Tagesordnung setzte, die in der glo­ba­lisierungs­kritischen deutschen Linken schon lange keine Rolle mehr spielt: Wer bestimmt in Europa?

Auch nach den Teilerfolgen, die die Gebrüder Kaczynski in Brüssel erzielten, ist zumindest klar: Polen und Osteuropa sicher nicht. Mehr als eine Galgenfrist hat Polen mit dem Kompromiss, den polnischen Stimmenanteil in der EU für ein paar Jahre einzufrieren, nicht erreicht. Die Deutschen hätten die polnische Regierung mit der Drohung, sie politisch zu isolieren, an die Wand gedrückt, erklärte der stellvertretende polnische Regierungschef, Ro­man Giertych, nach dem Gipfel. »Die Europäische Union wird immer stärker dem Diktat der deutschen Politik unterworfen.« Er erwäge nun, eine Demonstration vor der deutschen Botschaft zu organisieren. Ein paar Mond­gesichter werden ihm sicher dabei helfen.