Der wilde Eber von Canterbury

Zu Unrecht vergessene Musik, Teil drei: Der verzerrte Orgelsound von Caravan durchfährt uli krug
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Wenn man zu den Menschen gehört, die schon früh ihr spärliches Taschengeld in den Plattenladen trugen, um dort zwar nur eine Low-Budget-LP zu kaufen, dafür aber Stunden mit Tagträumen zubringen zu können, ist die Frage nach dem Lieblingsstück eigentlich gar nicht zu beantworten. Denn anders als der Typus, dem nach eigenem Bekunden eigentlich alles gefällt, sprich nichts bedeutet, hat man viel zu viele Favoriten.

Dennoch gibt es verschiedene Methoden, mit deren Hilfe man die Frage nach dem Lieblingsstück dann doch beantworten kann, wenn auch mit unterschiedlichen Ergebnissen. Da gibt es die Alben, die sich sogar monatelang am Stück auf dem Teller bzw. im Tray gehalten haben, oder die Platten, die man tatsächlich immer wieder einmal mit nahezu demselben Genuss wie beim ersten Mal hört. Doch fallen diese Werke nicht in die Rubrik der »zu Unrecht vergessenen Musik«, um die es hier ja gehen soll. Auch darin liegt übrigens eine Versuchung: nämlich eine Lanze für bestimmte Vertreter des an sich schon obskuren Progressive Rock zu brechen, nur deshalb, weil sie selbst für diese Verhältnisse besonders obskur sind. Als Favoriten kämen einem Kraut-Jazz-Rockcombos wie Brainstorm oder Kollektiv in den Sinn.

Doch die Frage ist eigentlich eine andere: Bei welchem Stück Musik läge einem am meisten daran, dass es dem Abgrund des Vergessens entrissen würde? Nach einigem Grübeln kam ich auf die hier am ehesten geeignete Auswahlmethode: Wenn man eine eigene Radiosendung zur Verfügung hätte, aus welcher Nummer wür­de man den Jingle schneiden? Und da fällt die Antwort ganz leicht: Aus »L’auberge du san­glier« von Caravan, der neun Minuten dauernden Instrumentalsuite, die Schluss- und Höhepunkt der LP »For Girls Who Grow Plump In The Night« (1973) bildet. Das »Wirtshaus zum Wilden Eber«, so die vermutlich angemessene Übersetzung des Titels ins Deutsche, ist geradezu eine Quintessenz des so genannten Canterbury-Stils, der nach dem Wohnort von Caravan und auch Soft Machine benannt wurde und verband, was ansonsten klar in verschiedene Genres getrennt war: den grotesken Humor des Psychedelic, die waghalsigen Soli und sowohl ungeraden wie unsteten Taktzeiten des Free Jazz, die typische Lust der Prog-Rock-Bastler am Ausschöpfen instrumentaler Möglichkeiten insbesondere der Hammondorgel und des analogen Synthesizers, donnernde Orchestereinsätze wie beim Action­film traditioneller Prägung und dazwischen immer wieder nahezu pastoral anmutende Passagen mit dem ironischen Einsatz von Streich- und Holzblasinstrumenten.

Diese gewagte Synthese gelang Caravan selten besser als auf »For Girls Who Grow Plump In The Night«. Für dieses Album konnten sie sich nicht nur die Dienste des für allerlei pompösen Lärm bekannten Arrangeurs Martyn Ford sichern. Mit seiner New Symphonia nahm die Band 1974 auch das einzige mir bekannte rundum gelungene Konzert einer Rockband mit einem Orchester in der Geschichte der populären Musik auf. Vor allem beeindruckt das furiose Orgelspiel Dave Sinclairs. Es ist unvergleichlich, wie Sinclairs bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Hammondorgel nach einer guten Minute in die von einer Viola getragene, ruhige Exposition von »L’auberge du sanglier« hereinbricht. Wie bei den Canterbury-Bands üblich wird der Klang der Orgel durch eine Fuzz Box, einen besonders kratzende Obertöne erzeugenden Verzerrer, gejagt und verwandelt sich dabei von einem regelmäßigen Ton in eine Folge einzelner Klangstöße, wobei der Effekt noch dadurch verstärkt wird, dass bei dieser Verwandlung dissonante Nebenfrequenzen entstehen. Kurz gesagt: Das Hörvergnügen durchdringt Mark und Bein. Nach dem Genuss kann es vorkommen, dass man in der S-Bahn von Mitreisenden argwöhnisch gemustert wird. Das könnte daher rühren, dass Sin­clairs akustische Attacke aus dem Mp3-Player nicht nur Gänsehaut, sondern auch Zähneknirschen und arhythmische Zuckungen hervorruft. Und was kann man von Musik mehr verlangen? Übrigens ist die 2002 erschienene CD von »For Girls Who Grow Plump In The Night« im Augenblick recht preisgünstig zu erwerben. Zögern Sie nicht!

Caravan: For girls who grow plump in the night (­Erstveröffentlichung: Deram 1973/ Wiederveröffentlichung: ­Universal 2002)