Ein Heer von Müllmännern

Während die italienische Armee die Beseitigung der Müllberge in Neapel und Umgebung koordinieren soll, wird der Notstand im System der Abfallentsorgung wieder einmal allein durch die kriminellen Geschäfte der Camorra erklärt. Dies verstellt den Blick auf Zusammenhänge, in denen auch Politik und Unternehmen eine Rolle spielen. von catrin dingler, rom

Nach einem Spaziergang über die phlegräischen Felder, die »brennenden Äcker« nordwestlich von Neapel (von griech. phlegraios, brennend), notierte Goethe 1787 in sein berühmtes Reisetagebuch: »Man wünscht zu denken und fühlt sich dazu zu ungeschickt.« Das gesamte Gebiet ist durch eine seltene Form des Vulkanismus gekennzeichnet, die die Erde in leicht bebender Bewegung hält. Noch heute gibt es kleine, stets aktive Vulkankrater, die den Boden erhitzen und unheimlich zischende und höllisch stinkende Schwefeldämpfe ausstoßen. In der Antike galt die Region dieser geologischen Beschaffenheit wegen als Teil des Hades, als Ort der Unterwelt.

Seit den letzten Wochen des vergangenen Jahres, als Neapel anfing, im Müll zu versinken, wird der alte Mythos unermüdlich zitiert, zumindest in der deutschen Presse. Die Bild-Zeitung berichtete über die »Abfall-Hölle« von Neapel, die von wütenden Anwohnern in Brand gesetzten Müllberge wurden im Spiegel mit »Höllenfeuern« verglichen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete die Vororte von Neapel als »danteske Siedlungen«, während in der Süddeutschen Zeitung über den »Gestank der Unterwelt« berichtet wurde, der diese Gegend präge. Mit dieser Metaphorisierung wird nicht nur an den alten Mythos angeknüpft, sondern es wird auch ein neuer festgeschrieben.

Für die »Müllkrise« soll allein das organisierte Verbrechen, die neapolitanische Camorra, verantwortlich sein. Dank der Enthüllungen des Bestsellerautors Roberto Saviano über »das System« der Camorra (Jungle World 41/07) glauben sowieso alle, über das süditalienische »Geschäft mit dem Müll« Bescheid zu wissen. Doch Pianura Pisani, der kleine Ort, in dem sich seit Anfang Januar der Protest gegen die Wiedereröffnung einer alten Mülldeponie konzentriert, ist nicht »Gomorrha«. Es geht in diesen Tagen nicht um illegale Giftmülltransporte, also um ein Geschäft, an dem die Clans massiv beteiligt sind, wie Saviano in seinem Buch bis ins Detail beschreibt. Hier geht es in erster Linie um die seit über einem Jahrzehnt fehlgeschlagenen Versuche der Politik, die urbane Abfallentsorgung in der Region Kampanien zu organisieren. Jeder allgemein gehaltene, fatalistische Verweis auf die Camorra verstellt den Blick auf komplexe Zusam­menhänge und konkrete kriminelle Verbindungen.

Der gesamte Hausmüll Kampaniens war 40 Jahre lang ungetrennt in die Mülldeponie bei Pianura abgekippt worden. Erst Mitte der neunziger Jahre wurde sie geschlossen und die Einführung eines modernen, differenzierten Systems zur Müll­entsorgung beschlossen. Die Aufgabe, die Konstruktion der entsprechenden technischen Voraussetzungen zu überwachen, sollte ein von der Regierung mit außerordentlichen Rechten ausgestatteter Kommissar übernehmen. Einerseits war damit die Abfallentsorgung der öffentlichen Einflussnahme und Kontrolle entzogen. Weil das Amt des Kommissars jedoch jahrelang in Personalunion vom Präsidenten der Re­gion ausgeübt wurde, blieb sie andererseits doch mit der öffentlichen Verwaltung und den dazugehörigen Parteiapparaten verbunden.

In Hinblick auf diese wenig transparenten, offensichtlich erfolglosen Kommissariatsgeschäfte hat die neapolitanische Staatsanwaltschaft seit einiger Zeit Ermittlungen aufgenommen. Insbesondere dem Linksdemokraten Antonio Bassolino, der, zunächst als Bürgermeister Neapels und seit 2000 als Regionalpräsident, die Politik Kampaniens dominiert, wird vorgeworfen, seine kommissarischen Sonderrechte missbraucht, für die Müllentsorgung bereitgestellte Mittel zu Wahlkampfzwecken veruntreut und öffentliche Aufträge an Firmen vergeben zu haben, denen Verbindungen zur Camorra nachzuweisen sein sollen.

Die Kosten der Kommissariatspolitik werden inzwischen auf zwei Milliarden Euro geschätzt. Dennoch werden in der Region bis heute nur knapp zehn Prozent des produzierten Mülls getrennt und weniger als zwei Prozent wiederverwertet. Stattdessen werden die unsortierten Abfälle weiterhin in immer neue Deponien abgekippt oder zu Müllpaketen gepresst und unter freiem Himmel zwischengelagert. Die Verbrennungsanlage in Acerra ist noch nicht in Betrieb. Sollte sie eines Tages funktionstüchtig sein, wird sie die euphemistisch als »Ökoballen« bezeichneten Müllpakete nicht verbrennen können, da sie zu viele feuchte, verbrennungsunfähige Abfälle enthalten.

Die »Krise« ist längst zum permanenten Ausnahmezustand geworden. Jeder neue »Notstand« rechtfertigt die Einrichtung von Deponien und Zwischenlagern trotz des Protests der Bevölkerung. Seit 2004 wird das Amt des Kommissars nicht mehr vom Regionalpräsidenten, sondern von Regierungspräfekten bekleidet. Die Verwaltung der immer neu inszenierten »Krise« ist zu einem Problem der öffentlichen Ordnung geworden. Die Deponien Kampaniens sind voll, umfangreiches Gelände ist auf Jahrzehnte verseucht. Mehrere unabhängige Studien belegen die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung: Krebserkrankungen bei Erwachsenen und angeborene Missbildungen bei Kindern haben in den neapolitanischen Provinzen überdurchschnittlich zugenommen.

Immerhin scheint die Regierung in Rom erkannt zu haben, dass die Einsetzung eines Kommissars für die Müllentsorgung nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist. Sie soll deshalb beendet werden: durch die viermonatige Arbeit eines Superkommissars. Diese Entscheidung zeigt nicht nur die Absicht, den Notstand mit den üblichen Mitteln – das heißt der Wiedereröffnung alter Deponien – zu bekämpfen. Das mit umfangreichen polizeilichen und militärischen Mitteln ausgestattete Amt des Superkommissars wurde ausgerechnet dem ehemaligen Polizeichef Gianni De Gennaro übertragen. Es steht daher zu befürchten, dass die Regierung ihre Pläne auch mit Gewalt gegen die protestierende Bevölkerung durchsetzen will. Wie De Gennaro mit unerwünschtem Protest umzugehen pflegt, zeigte er als Verantwortlicher für die Polizeieinsätze beim G8-Gipfel 2001 in Genua.

Um die Militarisierung des Großraums Neapel zu rechtfertigen, wurde der Protest in Pianura von Anfang an kriminalisiert. Zunächst mit der unsinnigen Vorwurf, er sei von den Bossen dem Camorra gelenkt worden. Dabei ist für die camorristischen Clans, die am Transport- und Verwal­tungs­wesen von legalen Deponien verdienen wollen, die Öffnung einer Müllhalde allemal interessanter als deren Stilllegung. Versuche, den Protest für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, werden dagegen eindeutig von den rechten Oppo­si­tions­parteien unternommen. Sie fordern nicht nur den Rücktritt mehrerer namhafter regionaler und nationaler Politiker des Mitte-Links-Bündnisses, sondern verweigern auch die von Ministerpräsident Romano Prodi eingeforderte Solidarität.

Wie verhärtet die Fronten sind, zeigte sich am Wochenende auf Sardinien. Nachdem der sardische Regionalpräsident sich dazu bereit erklärt hatte, eine Schiffsladung Müll auf der Insel zu verbrennen, blockierten Anhänger der Opposi­tion die Hafeneinfahrt. Ähnliche Protestaktionen wiederholen sich seitdem in allen Regionen, in denen Teile des kampanischen Mülls entsorgt werden sollen.

Dass sich die Proteste in Kampanien nicht mehr nur auf die Basiskomitees der betroffenen Gemeinden reduzieren lassen, zeigte sich vergangene Woche, als knapp 10 000 Menschen in der Innenstadt von Neapel gegen die geplante »Notstandslösung« der Regierung demonstrierten. Professoren und Studenten der neapolitanischen Universitäten haben sich in den so genannten Assisen des Palazzo Marigliano organisiert und nachgewiesen, dass die von der Regierung ausgesuchten Gelände zur Müllentsorgung nicht zuletzt aus geologischen und agrarökonomischen Gründen ungeeignet sind. Alle Flächen, die der Regierung zufolge zur »zeitweiligen« Mülldeponierung genutzt werden sollen, liegen entweder in erdbebengefährdeten Gebieten, im Naturschutz­park des Vesuv oder aber in unmittelbarer Nähe der kampanischen Weide- und Anbauflächen. Die Geologen Gianbattista De Medici und Franco Ortolani haben deshalb Alternativvorschläge vorgelegt. Aus unerfindlichen Gründen werden diese jedoch von der Regierung bisher nicht in Betracht gezogen.

Derweil radikalisiert sich der Protest auf den phlegräischen Feldern. Die Zufahrtsstraßen zur Deponie in Pianura sind seit Beginn des Jahres blockiert, viele Schulen im Nordwesten Neapels sind bis auf weiteres geschlossen. Nachdem einige Nächte lang Gruppen von Jugendlichen und Ultras aus dem Stadion nicht nur die immer höher wachsenden Müllberge angesteckt, sondern auch ein Löschfahrzeug der Feuerwehr und die zur Müllverlagerung bereitgestellten Lastwagen mit Feuerwerkskörpern und selbst gebastelten Papierbomben angegriffen haben, wurde die Polizeipräsenz in den betroffenen Stadtvierteln verstärkt.

Vertreter der Centri Sociali von Neapel beobachten die Lage mit staunender Ratlosigkeit. Sie verzeichnen ein bedrohliches Brodeln, spüren, wie der Boden in den Vorstädten zu beben beginnt, aber was tatsächlich hier passiert und was in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird, wenn De Gennaro seine ersten Entscheidungen treffen und zu realisieren versuchen wird, vermögen sie nicht vorauszusehen. Mit jener skeptischen Bewunderung, mit der einst Goethe die natürlichen Gegebenheiten der Gegend beschrieben hat, betrachtet auch das linksradikale Laboratorium Insurgencia die sozialen Verhältnisse: »Was wir erleben, ist in seinen Dimensio­nen noch undefiniert und mit den politischen Kategorien, mit denen wir üblicherweise soziale Phänomene betrachten, schwierig zu verstehen.«