Das linke Standardwerk »Die vielköpfige Hydra«

Im Meer der Armen

In ihrem Standardwerk »Die viel­­­köpfige Hydra« beschreiben Peter Line­baugh und Marcus Rediker den Aufstieg des frühen Kapitalismus als ­Geschichte der atlanti­schen Koloni­sation. Ihr Buch rückt die revoltierenden Heerscharen afrika­nischer Sklaven, städ­tischer Proleta­rier, der Piraten und Ureinwohner der Karibik in den beiden ­Amerikas in den Mittelpunkt.

Zeitgenössische Apologeten des bri­ti­schen Kolonialsystems wussten neben dessen offenkundigem Zweck, der Ausplünderung fremder Welt­gegenden, einen zweiten ins Feld zu führen, der im heutigen Bild dieser Epoche seltener eine Rolle spielt. Es bot sich die Gelegenheit, einen Beitrag zum sozialen Frieden im Mutterland zu leisten, indem man sich per Export des wachsenden Heeres von Habenichtsen entledigte, deren Äcker man eben erst unter Aufbietung jeder nur erdenklichen Gewalt enteignet hatte. Zahllose frisch prole­tarisierte Men­schen verschlug es als Schuldknechte, Sträflinge und Zwangsrekrutierte in die Kolo­nien, auf Handelsschiffe und in die Royal Navy, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zum größ­ten Arbeitgeber Englands entwickelte.
Die unvorhergesehenen Folgen dieser Herr­schafts­tech­nik untersuchen Peter Linebaugh und Marcus Rediker in ihrer sozialgeschicht­lichen Studie »Die vielköpfige Hydra«, dem Produkt fast zwanzigjähriger Forschungen über das »atlantische Proletariat« und seine Rebel­lio­nen gegen den heraufziehenden Kapitalismus. Obwohl die Autoren – zwei US-amerikanische Geschichtsprofessoren, die dem linksradikalen Midnight Notes Collective nahestehen – sich ge­gen eine strenge Systematik und für eine epi­sodenhafte Darstellung entschieden haben, hat ihr Werk nichts mit der postmodernen Zer­trüm­merung von Geschichte gemein. Es sucht vielmehr den roten Faden, der zwi­sch­en den Skla­venaufständen, Meutereien und städtischen Revolten in der atlantischen Welt vom 17. bis zum frühen 19.Jahrhundert verläuft.
Gemeineigentum und Sklaverei bilden die bei­den Pole, zwischen denen diese Geschichte ent­faltet wird. Zur Zwangsarbeit wurden nicht nur verschleppte Afrikaner, sondern auch weiße Engländer rekrutiert. »Drei von vier der zum Dienst gepressten Männer«, heißt es etwa über die Matrosen der britischen Marine in den neun­­­ziger Jahren des 16. Jahrhunderts, »starben innerhalb von zwei Jahren, und nur jeder Fünfte von ihnen kam im Gefecht um.« Nicht freie Lohn­­arbeit, sondern Peitsche und Galgen bildeten die Säulen des Systems in seiner frühen Phase. Erst nachdem sich das Kapital als industrielles konsolidiert hatte, konnte direkte Gewalt in den Hintergrund treten und Krisensituationen vorbehalten bleiben. Die geteilte Erfahrung der Knecht­schaft begünstigte den gemeinsamen Aufruhr von Seeleuten, Sklaven und Schuld­knechten ungeachtet ihrer Herkunft und Haut­farbe.
Nötig war die Gewalt, weil den unteren Klassen noch nicht alle Fluchtwege aus dem ihnen zugedachten Schicksal verbaut waren. Line­baugh und Rediker eröffnen ihre Geschichte mit dem Schiffbruch der Sea-Venture im Jahre 1609 in der Karibik, deren Besatzung die Gelegenheit zu einer Meuterei nutzt, da sie lieber auf der Bermuda-Insel ihr Auskommen suchen will, anstatt sich in die Kolonie Virginia befördern zu lassen, wo sie »nichts als Elend und harte Arbeit« vermutet. Diese Geschichte steht exemplarisch für die Möglichkeit, in den Ge­mein­schaf­ten entflohener Sklaven, den Kommunen der frühkommunistischen diggers in England oder auf Piratenschiffen dem rigiden Arbeitsregime des aufstrebenden Kapitalismus zu entgehen. Anders als heute war die Gründung autonomer Gemeinwesen keine regressive Illusion, sondern eine Alternative auf dem Niveau der gegebenen Vergesellschaftung, von der bei Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde.
Diese Brüchigkeit des Frühkapitalismus rufen Linebaugh und Rediker ins historische Gedächt­nis, indem sie von den plebejischen Strömungen in der englischen Revolution der vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts einen Bogen zur zehntägigen Revolte in Neapel 1647 – in der zum ersten Mal »das Proletariat einer eu­ro­päi­sch­en Großstadt die Macht ergriff« –, dem ge­schei­ter­ten Umsturzversuch auf Barbados 1649 und den Rebellionen in Virginia von 1663 - 76 schlagen, bevor sie verfolgen, wie sich der Auf­ruhr ab 1680 in den »Seestaat« der britischen Navy und Handelsmarine verlagert und ab 1760 das Zeitalter der Revolutionen in beiden Amerikas einläutet. Das Schiff – »ein Treibhaus des Internationalismus« –, der Hafen und die Plantage waren die Orte, an denen die Enteigneten aus allen Ecken des Atlantiks zusammengeworfen wurden und eine explosive Mischung ergaben. So wie sich auf Barbados pauperisierte Iren gemeinsam mit versklavten Afrikanern erhoben, standen dem Anführer des Aufstands in Neapel, einem Fischer namens Masaniello, ehemalige Galeerensklaven als Berater zur Seite. Diesen frühen Kosmopolitismus verdeutlichen Linebaugh und Rediker auch an einzelnen Biogra­fien, sei es die einer schwarzen bap­tis­ti­sch­en Hausmagd, die sich in Bristol – einer Schnitt­stel­le des atlantischen Dreieckshandels – an der englischen Revolution beteiligt, sei es die eines irischen Colonels der Royal Navy, der in Mittelamerika mit dem Urkommunismus Bekanntschaft macht und schließlich 1803 in London als Anführer eines gescheiterten Auf­stands gehängt wird.
Für das Verschwinden des multiethnischen atlantischen Proletariats machen die Autoren vor allem gezielte rassistische Spaltungsmanöver verantwortlich. Anders als in der griechischen Mythologie wird die vielköpfige Hydra schließlich bezwungen, indem einige ihrer Köpfe auf die Seite der Herrschaft gezogen werden. Das im Übergang zum 19. Jahrhundert um sich greifende Postulat von der »Überlegenheit der weißen Rasse« wird überzeugend als Versuch ent­ziffert, Teile des atlantischen Proletariats an das Herrschaftssystem zu binden.
Allerdings kommt diese emphatische Ge­schichts­schrei­bung nicht ohne Verklärung ihrer Akteure aus. Als wären etwa Piraten niemals in den Sklavenhandel verstrickt gewesen, werden sie kurzerhand zu »klassenbewussten und auf Gerechtigkeit bedachten« Rebellen erklärt. Insgesamt scheint das Bemühen der Autoren, die Verbindungslinien zwischen den diversen Käm­pfen freizulegen, ihren Blick darauf zu verstellen, dass die Subalternen mitunter konträre Bestrebungen verfolgten. Betont wird der allerorten wirkende Antagonismus zwischen oben und unten, während die verwirrende Verschlingung bürgerlicher und proletarischer Momente, durch die sich die damaligen Revolutionen auszeichnen, kaum reflektiert wird. So verorten Linebaugh und Rediker etwa die Bewegung der Levellers der englischen Revolution rund­weg auf der Seite des Gemeineigentums, obwohl sie vor allem die Ausweitung des Wahlrechts forderten und sich gelegentlich dagegen aussprachen, »das Eigentum zu zer­stö­ren oder alle Dinge gleich zu machen«.
»Die vielköpfige Hydra« ist, dem Anspruch der Autoren gemäß, brillante Geschichte »von unten«, allerdings um den Preis, dass die his­torische Gestalt des Kapitalismus selbst weitgehend im Dunkeln bleibt, was wiederum dem Verständnis der geschilderten Kämpfe im Wege steht. In der behandelten historischen Phase ist das Kapital der Produktion selbst noch weitgehend äußerlich, was den naturrechtlich begründeten Ansprüchen auf das Gemeineigentum am Land entgegenkommt. Anders als im spä­teren Industriekapitalismus hat das Kapital die Menschen bereits massenhaft aus vormodernen Gesellschaften herausgesprengt, ohne sie in ein beinahe lückenloses System versachlichter Herrschaft einzuspannen. Das macht seine Instabilität aus und erklärt den Charakter der frühen Klassenkämpfe als Kette von Auf­stän­den.