Eine wiedergefundene Pyramide

Am Anfang war das Stargate

Eine Pyramide war nicht nur ein Grab, sondern eine magische Maschine. Die mit ihrem Wirken verbundenen Vorstellungen prägen unser Denken bis heute.

Viele Menschen verlieren ihre Schlüssel, ihre Brieftasche oder ihre Brille. Ungewöhnlich ist, dass eine Pyramide verloren geht. Doch auch das kommt vor. Der deutsche Archäologe Karl Richard Lepsius registrierte 1842 auf dem Plateau von Saqqara nahe Kairo als Nr. 29 eine »koypflose Pyra­mide«, denn die Spitze fehlte. Später nannte man sie die »fehlende Pyramide«, es war keine Spur mehr von ihr zu sehen. Wiedergefunden wurde sie erst in der vergangenen Woche unter einer acht Meter dicken Sandschicht. »Wir haben die Lücke der fehlenden Pyramide gefüllt«, sagte Zahi Hawass, Ägyptologe und Generalsekretär des Hohen Rats für Altertümer.
Hawass hält es für wahrscheinlich, dass es sich um die Pyramide des Königs Menkauhor aus der fünften Dynastie handelt. Dieser regierte jedoch nur neun Jahre, von 2364 bis 2355 v.Chr, und muss­te sich deshalb wohl mit einer vergleichsweise kleinen Pyramide begnügen.
Noch in der Spätantike wurden Pyramiden gebaut, doch die eigentliche Pyramidenzeit, in der die monumentalen königlichen Grabmäler errichtet wurden, waren die Jahre 2707 bis 2170 v.Chr. Das Interesse anderer Zivilisationen weckten sie bereits in der Antike, der griechische Historiker Herodot besuchte sie im 5. Jahrhundert v.Chr. Sie seien von Sklaven errichtet worden, berichteten ihm die Priester, doch das war wohl nur eine Vermutung, denn über so profane Fragen gab es keine Aufzeichnungen.
Die moderne Ägyptologie stellte fest, dass es Sklaverei im rechtlichen Sinn damals gar nicht gab, sondern nur verschiedene Grade der Unfreiheit. Ob die Steinhauer und Träger mit Unwillen zur Arbeit gingen oder sich freuten, im Rahmen einer »Du bist Ägypten«-Kampagne an einem Monumentalbau beteilig zu werden, lässt sich ebenso­wenig ergründen wie die Art ihrer Entlohnung. Die Zahl der am Pyramidenbau Beteiligten war jedoch offenbar weit geringer, als man früher annahm. Der Ägyptologe Peter Jánosi errechnete, dass es höchstens 15 000 waren, weniger als ein Prozent der Bevölkerung.

Außerirdische wurden nicht benötigt, das haben zahlreiche Modellrechnungen ergeben. Allerdings war die Pyramide ein Stargate, ein Tor zu den Sternen, jedenfalls in der ägyptischen Vorstellungs­welt. Sie ermöglichte es dem König, seinen Platz im Himmel unter den Göttern einzunehmen, aber auch, regelmäßig auf der Erde vorbeizuschauen.
Eine Pyramide war nicht einfach ein zu groß geratener Sarg, den man verschloss und vergaß. Angeschlossen waren Tempel, denen wiederum Dörfer und Werkstätten zu ihrer Versorgung zugeordnet wurden. Bauern, Handwerker, Musiker, Priester und viele andere dienten dem Kult des verstorbenen Herrschers. So glaubte man, er bedürfe fünf täglicher Mahlzeiten, drei nahm er im Jenseits, zwei im Diesseits zu sich, letztgenannte mussten von den Priestern bereitgestellt werden.
Eine Pyramidenanlage war eine magische Maschine zur Aufrechterhaltung der Weltordnung. Die ägyptische Götterwelt ist recht komplex, im Laufe der Zeit änderten sich die Aufgaben diverser Gottheiten, und dass die Ägypter die »Einwohnung«, die Verschmelzung zweier Götter, kannten, macht ihre Theologie auch nicht verständlicher. Einige Grundvorstellungen erhielten sich jedoch.
Der Staat, dessen Unvergänglichkeit die Pyramide symbolisierte, ensteht aus der Vereinigung der Götter Horus (Recht und Ordnung) und Seth (Gewalt und Chaos). Horus kann sich nicht an die Stelle Seths setzen, er kann ihn nur im Zaum halten. Die Zivilisation ist in dieser Vorstellung nie eine gesicherte Lebensform, sie muss immer wieder neu erkämpft werden, durch das weltliche Handeln des Königs, aber auch durch das religiöse Ritual, das allein die notwendige Mitarbeit der Götter sichert. Dazu gehört auch die Sorge um das Wohl eines verstorbenen Königs, der ja als weiterhin gegenwärtig gedacht wurde und den zu vernachlässigen dem Chaos ungebührlichen Einfluss hätte verschaffen können.
In den zwei Jahrtausenden nach der Pyramidenzeit haben sich Begräbniskultur und Jenseitsvorstellungen weiterentwickelt, doch einige Grund­ideen blieben erhalten. Das Jenseits stellten sich die Ägypter als ein Abbild des Diesseits vor. Auch dort gab es eine soziale Hierarchie. Deshalb begannen die Wohlhabenden rund 200 Jahre nach der Pyramidenzeit, sich Usheb­­ti, kleine, mit magischen Inschriften versehene Figuren aus Holz, Stein oder Ton, ins Grab stellen zu lassen. »Wenn dem Osiris Ani befohlen wird, eine der Arbeiten zu tun, die im Jenseits getan werden müssen«, so eine typische Inschrift, sollte der Ushebti sagen: »Ich werde es tun, ich bin der, den du rufst.« Sogar für den Fall, dass ein neidischer Faulpelz den Ushebti abwerben will, wurde Vorsorge getroffen: »Gehorche nur dem, der dich machte.« Damit war sicherlich der Besitzer gemeint und nicht der Hand­werker.
Der magische Realismus der altägyptischen Götterwelt und ihres Totenreichs erscheint aus heutiger Sicht bizarr, ja geradezu kindisch. So empfanden bereits spätere Zivilisationen der Antike, im 2. Jahrhundert v. Chr. lässt der griechische Satiriker Lukian im »Rat der Götter« Momus den Gott der Mumifizierung Anubis fragen: »Wie kannst du bellender Hund ein Gott sein wollen?« Von Zeus will Momus wissen, wie er es aushält mit dem »lächerlichen Zeug, das irgendwie von Ägypten in den Himmel eingeschmuggelt ist«. Zeus, obwohl kein Freund der äygptischen Religion, mahnt: »Wer nicht darin eingeweiht ist, soll nicht darüber lachen.«

Zeus hat recht, nicht nur, weil man den Alt­ägyp­tern als Pionieren der Zivilisation, die auf keine Vorbilder zurückgreifen konnten, als sie die Schrift, den Kalender, die Theologie und vieles mehr erfanden, manches nachsehen muss. Hinter den bizarren Gestalten und Ritualen verbergen sich religiöse, philosophische und moralische Vorstellungen, die immense Bedeutung für spätere Religionen hatten und auch im säkularen Denken unserer Zeit nachwirken. So ist Isis mit dem kindlichen Horus im Arm das Vorbild der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, auch die für das Christentum unentbehrliche Idee des sterbenden und auferstehenden Gottes ist ägyptischen Ursprungs.
Die einfachsten Dinge sind am schwierigsten zu erfinden. So wie die Natur keine unmittelbaren Anhaltspunkte für die Erstellung eines Kalenders liefert, erschließen sich auch gesellschaftliche Begriffe nicht von selbst. Auch in dieser Hinsicht waren die Ägypter Pioniere.
Die Angst vor dem Tod wird häufig als der wichtigste Grund für die Enstehung von Religionen genannt. Doch die Idee des individuellen Weiterlebens nach dem Tode ist relativ neu. Noch Jesus musste sich mit den Sadduzäern auseinandersetzen, jüdischen Fundamentalisten, die bestritten, dass es ein Jenseits gibt, da in den Büchern Mose nichts davon zu lesen sei. »Ich will liegen bei meinen Vätern«, fordert Jakob kurz vor seinem Tod. Der Einzelne lebte nur im Kollektiv weiter, dessen Dauerhaftigkeit das Familiengrab symbolisierte.
Die frühen ägyptischen Könige waren wohl die ersten, denen ein individuelles Weiterleben vergönnt sein sollte. Es gab dann eine gewisse »Demo­kratisierung«. Die seit der fünften Dynastie gebräuchlichen »Pyramidentexte«, eine Art Reiseführer durch das Jenseits, standen in späteren Zeiten allen zur Verfügung, die sich eine Grabkammer leisten konnten. Das Fortdauern der individuellen Existenz bedurfte allerdings einer obrigkeitlichen Genehmigung. »Jedes hieroglyphische Denkmal«, schreibt der Ägyptologe Jan Assman, »dient der Verewigung eines Individuums und verdankt sich einer staatlichen Lizenz.«
Nach dem Individuum wurde dessen Verantwortung entdeckt. Auch die Gerechtigkeit, symbolisiert in der Göttin Maat, ist wahrscheinlich eine ägyptische Erfindung. Notwendig wurde sie erst nach der Entstehung von Staat und Klassengesellschaft, denn erst die Ungleichheit macht eine ausgleichende Kraft – bereits die Ägypter kannten die Waage als Symbol der Gerechtigkeit – erforderlich. In den Pyramidentexten gibt es noch keinen Hinweis auf ethische Gebote. Das seit dem 16. Jahr­hundert v.Chr. gebräuchliche »Buch der Toten« enthält hingegen das »negative Glaubensbekenntnis«. Der Verstorbene musste bekennen, welche Untaten er nicht begangen hatte, um sich für das ewige Leben zu qualifizieren. Viele Aussagen kreisen um die Einhaltung der religiösen Rituale, es finden sich jedoch auch soziale Verpflichtungen (»Ich habe nicht die Milch vom Mund eines Säuglings weggenommen«) und das Bekenntnis: »Ich habe nicht weinen gemacht.«

Möglicherweise glaubten die Ägypter, dass es vor allem darauf ankam, die Formeln korrekt aufzusagen, und nicht mit einer strengen Prüfung zu rechnen war. Ob Könige, Beamte und Priester »gerechter« handelten als zuvor, lässt sich nicht mehr feststellen, und obwohl anzunehmen ist, dass nicht zuletzt soziale Proteste die Oberschicht bewogen, sich eine Ethik zuzulegen, sind auch solche Zusammenhänge nicht mehr nachweisbar. Den Einzelnen aus dem Kollektiv zu lösen, ihm eine individuelle Verantwortung zuzusprechen und ihn auf die Gerechtigkeit zu verpflichten, war jedoch geistesgeschichtlich von immenser Bedeutung und eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Ethik.
Man mag bedauern, dass die Menschheit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor der Aufklärung nur über religiöse Umwege zu neuen Erkenntnissen kam. Historisch betrachtet ist das religiöse jedoch die Voraussetzung des säkularen Denkens und prägte dessen Begriffe. In der Politik geht es noch immer darum, Horus und Seth durch Maat zu vereinigen. Um die Zivilisation vom Staat lösen zu können, muss eine neue Begrifflichkeit erfunden werden, dazu allerdings muss die alte bekannt und verstanden sein. Die Forderung nach Gerechtigkeit etwa kann nur der Reformierung und somit der Bestätigung sozialer Hierarchien dienen. Die Gleichheit hatte im alt­ägyptischen Weltbild keinen Platz. Sie zu erfinden, sollte den jüdischen Propheten und Buddha vorbehalten bleiben.