Serie über Serien: »Tatort«

Als die Bullen schöner wurden

Serie über Serien. Wenn man wie Heike Karen Runge in Duisburg aufwuchs, war der Schimanski-»Tatort« das Highlight der Fernseh-Sozialisation

Man kann ja gar nicht in der Bundesrepublik aufgewachsen sein, ohne eine höhere Dosis »Tatort« abbekommen zu haben. Entweder als zumindest phasenweise aktiver »Tatort«-Gucker oder als Passivzuschauer der ältesten Krimiserie in Deutschland. Irgendwo flimmerte immer gerade einer, im Elternwohnzimmer, in Kneipen oder bei Nachbarn. Daran hat sich nichts geändert, eher wirkt es so, als ob sich der »Tatort« immer weiter ausbreitet. Abends beim Zappen hat man extrem gute Chancen, in einem Regionalprogramm auf den legendären Vorspann mit der immer noch völlig stimmigen Klaus-Doldinger-Melodie zu stoßen oder in die soundsovielte Wiederholung eines Falls zu geraten. Das Aufgebot an Kommissaren ist mittlerweile ähnlich unüberschaubar geworden wie das Angebot an Frühstücks-Cerealien.
Die Chronik sagt, dass die erste Folge 1970 gezeigt wurde, »Taxi nach Leipzig« hieß und von einem Kommissar Trimmel bestritten wurde. Bis zur 600. Jubiläumsfolge, die sich nichts weniger als den Anschlag vom 11. September zur Brust nahm, war es ein weiter Weg durch die deutsche Fernsehlandschaft. Dass bei so viel Material auch viel Ausschuss und Mittelmaß dabei ist, versteht sich von selbst. Sturzlangweilige Kommissare, die auf unkonventionelle Rotweintrinker getrimmt wurden, nervten ebenso wie die gut gemeinten, aber schlecht gemachten Fälle, in denen es mit Pä­dagogik um Umweltskandale, Frauen- und Kinderhandel oder Sterbehilfe ging. Auch der leicht verschwörungstheoretisch angehauchte 9/11-»Tatort« gehört in diese untere Schublade.
Die Serienchronik steckt dennoch voller Sternstunden, und wenn man im völlig unglamourösen Duisburg aufwächst und zur Schule geht, sind die dort gedrehten Schimanski-Folgen natürlich das Highlight schlechthin. Dass die eigene depressive Stadt mit der Skyline aus Schornsteinen, an denen man sonst immer miss­mutig vorbeifuhr, plötzlich im Fernsehen war, bedeutete, dass man Anschluss an den Rest der Welt gefunden hatte, und ließ einen selbst irgend­wie bedeutender erscheinen.
In der besten Szene der gesamten »Tatort«-Geschichte hatte Horst Schimanski (ja, Horst!, leider) seinen allerersten Auftritt, und es wurde richtig dick aufgetragen; schneller, lauter, motziger Proletenalltag im heruntergekommenen Duisburg-Ruhrort plus, als Dreingabe, eine ganz witzige Fernseh-Meta-Kritik. Einen schmierigen Rentner im Unterhemd, der aus Frust über das langweilige TV-Programm seinen riesigen Fernsehapparat aus dem Fenster schmeißen will, brüllt Schimanski an: »Hör auf mit der Scheiße, du Idiot«.
Mit der für deutsche Fernsehverhältnisse krachenden Macho-Performance wurde das staatstragende Fernsehbeamtentum entsorgt. An dem neuen Kommissar und der, na ja, actionbetonten Dramaturgie schieden sich Geister und Generationen. Von älteren Familienmitgliedern wurde man beim »Tatort«-Gucken plötzlich immer wieder mit Fragen nach der Handlung konfrontiert: »Wer ist denn dieser Mann jetzt?« und »Wo ist jetzt das Mädchen geblieben?« und »Hast du das gerade verstanden?« Meistens ja, denn so unglaublich kompliziert lagen die Dinge nicht.
Damals wurde Schimanski zum Leitstern ­einer neuen Generation von Ermittlerfiguren und war nicht nur hinsichtlich des Outfits eine Art Stilikone. Revolutionär war auch der Ermittlungsstil, der Dienst und Schnaps munter miteinander verrührte und bei dem klar war, dass das Private beruflich ist. Vorgesetzte wurden geduzt, angeschnauzt und »Arschloch« genannt, Termine verpennt und Affären mit Zeuginnen und Verdächtigen begonnen.
Rückblickend kommt einem Schimanskis Schnäuzer zwar eindeutig zu groß vor, und die als Inkarnation von Lässigkeit gefeierte Wind­jacke hat sich mittlerweile als Rentner-Dress etabliert. Trotzdem ist die das Polizistenbild umwälzende Wirkung der Schimanski-Figur gar nicht zu überschätzen. Wenn man heute am Berliner Drogenreservat »Hasenheide« vorbeifährt, gefallen einem jedenfalls die dort lässig rumlungernden Bullen besser als die Dealer. Was viel mit Schimanski zu tun hat.