Über die Krimis von Colin Dexter

Die Perlen in der Auster

Mit Chief Inspector E. Morse hat Colin Dexter eine der tiefgründigsten Detektivfiguren der Genregeschichte geschaffen. In Deutschland sind seine Bücher ebenso unbekannt wie die gleichnamige TV-Serie, die im England der neunziger Jahre Quotenrekorde erzielte.

Wir befinden uns in den Hallen eines Oxforder Colleges, wo ein Umtrunk stattfindet. Gesprächsfetzen sind zu hören, Leute werden einander vorgestellt, ein Mann mit einem Glas Wein in der Hand drängt sich durch die Menge und fasst sich irritiert ans Ohr. Die Geräusche werden dumpf, die Stimmen undeutlich, die Worte unverständlich: Der Mann ist taub und hat Schwierigkeiten mit seinem Hörgerät. Er starrt ratlos die anderen Gäste an, sein Blick bleibt an einer Personengruppe hängen. Konzentriert betrachtet er die Lippen der Sprechenden. Plötzlich stutzt er, verlässt verstört den Raum und wendet sich an einen älteren Kollegen, um mitzuteilen, was er erlauscht hat. Wenige Tage später findet man ihn tot in seiner Wohnung.
Die Exposition von »The Silent World of Nicholas Quinn«, der zweiten Folge der Krimi­serie »Inspector Morse«, die auf dem zweiten Kriminalroman des britischen Schriftstellers Colin Dexter beruht, bringt ein Thema ins Spiel, das sich durch alle Bücher und Filme um den Oxforder Scotland-Yard-Beamten, Junggesellen, Wagner-Kenner, Passionsalkoholiker, Pornoleser und Kreuzworträtselexperten Chief Inspector E. Morse zieht: die Uneindeutigkeit der Wahrheit, die sich nie einfach aus Tatsachen ableiten oder mit den Mitteln der Logik deduzieren lässt. Vielmehr scheint sie plötzlich, ohne Absicht des Erkennenden aufzuleuchten, um sich sogleich als trügerisch zu erweisen. Was der taube Mr. Quinn zu entdecken glaubte, so erfahren wir am Ende, als Morse einen Lippenlesekurs absolviert und den gleichen Fehler begeht wie Quinn, war nur die halbe Wahrheit und beruhte selbst auf einem Irrtum. Doch der Irrtum, das gehört zu den Lektionen von Dexters Büchern, ist das innerste Bewegungsgesetz der Vernunft.
Kein Krimiautor hat je Plots ersonnen, die ein ähnliches Maß an wacher Aufmerksamkeit und Imagination verlangen wie die Romane Colin Dexters. Nie folgen sie dem starren Schema des Whodunit, das von der sichtbaren Wirkung zur unsichtbaren Ursache, von der Tat zum Täter führt. Das Rätsel, das die Handlungen in Bewegung hält, ist oft gar kein Ergebnis von Plänen oder Intrigen, sondern des blinden Zufalls, der das Leben der Menschen mit größerer Sicherheit zerstört als jede böse Absicht. Die Romane um Chief Inspector Morse sind konstruiert wie ein Bild, das enigmatisch wirkt, weil der Betrachter es nur durch die Spalten eines Vorhangs sieht, aus deren widersprüchlichen Fragmenten er die Gesamtansicht erschließen muss. Prägnant zeigt sich dies an den Prologen, die fast jedem Buch vorangehen und Situationen beschreiben, deren Sinn sich erst im Lauf der Lektüre enthüllt. Oft werden Dialoge wiedergegeben, bei denen unklar ist, wer spricht, oder Handlungen geschildert, deren Urheber verschwiegen wird. Oft auch hat der Leser einen Informationsvorsprung, der die Rätselhaftigkeit des Geschehens nur potenziert. Nie ist das Rätsel ein fertiges Konstrukt, sondern es entsteht durch den Akt des Erzählens, die Wahl der Perspektiven und die Lücken in der Chronologie der Ereignisse. In Dexters besten Büchern, »The Riddle of the Third Mile« von 1983 oder »The Way through the Woods« von 1992, wird fast gar nichts mehr erklärt, sondern auf die Findigkeit der Leser vertraut, denen zugemutet wird, einen Krimi mit derselben Genauigkeit zu lesen wie ein Werk der Weltliteratur.
Auch Morse ist ein illegitimes Kind der Weltliteratur. Im Grunde interessiert er sich nicht für Verbrechen. Am liebsten würde er stundenlang frühstücken, das Kreuzworträtsel der Times lösen, Wagner, Mozart oder Verdi hören, einen Band mit Dichtungen von Thomas Hardy oder seinem Lieblingslyriker A.E. Housman lesen und dann in ein Pub gehen, um bis zur Sperrstunde sein »Real Ale« zu trinken. Die akademische Karriere, die er sich in seinen Jugendjahren erhoffte, hat sich als Illusion erwiesen – das Oxforder College, das er besucht hat, will nichts mehr von ihm wissen, seit er seine Honoratioren infolge einer unglücklichen Liebe mit einer poor academic performance beleidigt und sein Studium frustriert an den Nagel gehängt hat. Seither verabscheut Morse die Akademiker, von denen er doch nicht lassen kann, weil er sich ihnen näher fühlt als seinen Kollegen, die allenfalls die Zeitung lesen und ein Leben mit Haus, Frau und Kind als Gipfel des Glücks an­sehen. Prototyp dieser Haltung ist Sergeant Lewis, dessen Lieblingsgericht Spiegeleier mit Bratkartoffeln sind, der in jeder Stadt eine Tante zu haben scheint und seiner Frau ständig beim Renovieren hilft. Dennoch empfinden beide Hochachtung füreinander: Morse erkennt in Lewis’ Spießigkeit das Urvertrauen in ein welkes Glücksversprechen, Lewis in Morses hochmütiger Stoffeligkeit den Nachklang eines stummen Schmerzes, der fast so alt zu sein scheint wie das Leben selbst.
Während bei Krimiverfilmungen meist entweder der Film oder das Buch den Kürzeren zieht, sind die Fälle um Chief Inspector Morse das vielleicht einzige Beispiel für eine wechselseitige Ergänzung von Buch und Film, die ohne einander undenkbar wären. Obwohl sie erst 1987 startete, als Dexter bereits sieben seiner insgesamt 13 Bücher geschrieben hatte, gelang es der 33 Folgen umfassenden Serie mit John Thaw und Kevin Whately, in der Colin Dexter regelmäßig einen Kurzauftritt absolvieren durfte, die Welt der Romane nicht nur abzubilden, sondern zu differenzieren, was sich wiederum in den Büchern niederschlug: Statt seinen Lancia fuhr Morse plötzlich den roten Jaguar der Serie, und das Publikum erfuhr neue Details seiner Biografie. Seine Mutter gehörte zu den Quäkern, deren Moralismus sie dazu brachte, ihm den Vornamen »Endeavour« zu geben, der »Mühe«, aber auch »Strebsamkeit« bedeuten kann und für den er sich so schämt, dass er jedermann bittet, ihn einfach nur »Morse« zu nennen. Seine neurotischen Züge, besonders seine Liebe zur Pornografie, aber auch sein erotisches Interesse an Krankenschwestern und Schulmädchen, werden in der Serie gemildert. Dafür hat sie dem Publikum die ergreifendste Titelmelodie der Genregeschichte geschenkt: ein von Barrington Pheloung komponiertes, aus dem Piepsen des Morse-Alphabets abgeleitetes Fugenmotiv, das in einen majestätischen Hymnus überführt wird, um wieder im schrillen Ton des Notsignals zu enden.
Solche Skurrilitäten, die hierzulande einen kommerziellen Flop garantieren würden, haben der Serie in Großbritannien Massenerfolge beschert. Dort gibt es Morse-Lexika, Morse-Bildbände und Morse-Reiseführer, und eine Forschungsgruppe der Oxforder Universität hat einen Stadtplan mit allen von Morse frequentierten Pubs erstellt. Wie Sherlock Holmes haben ihn die Briten zum Bestandteil ihrer Alltagskultur erhoben und so eine Fähigkeit bewiesen, die in Deutschland, wo man die von Rache und blindem Fatum durchtränkten Krimis der Skandinavier der präzisen britischen Spannungsdramaturgie vorzieht, völlig unbekannt ist: Liebe zur Phantasie, Wertschätzung des Zweckfreien und Hochachtung vor dem Abwegigen. Dies hat freilich mit dem Charakter der Morse-Stories selber zu tun, die sich als melancholische Nachgeschichte des Viktorianismus lesen lassen. Wie die Titelmelodie von Barrington Pheloung eine vormusikalische, als Hilferuf fungierende Tonfolge in ein dezentes Pathos überführt, das doch von dem ursprünglichen Notsignal durchdrungen bleibt, bebt in der bis ins Kleinste durchgeformten Architektur von Dexters Romanen eine stumme Angst nach, die deren scheinbare Leichtigkeit dementiert. Am Ende – im 13. Roman bzw. der 33. TV-Folge – erweist diese Angst sich als der wahre Realismus, wenn Morse an seiner störrischen Gesundheitsverachtung stirbt, die Signum seiner Liebe zum Leben ist. Sein Hass auf Krankenhäuser, der den Tod als Konsequenz des Lebens gekränkt zurückweist, bringt ihn früher zur Strecke als die hämischen Verächter des Lebens mit ihrer alerten Gesundheit und hohlen Geselligkeit, denen er Buch für Buch und Folge für Folge mit Sarkasmus die Stirn bietet.
Dass die freundlichsten Menschen am frühesten sterben, dass alle, die miteinander glücklich sein könnten, sich verfehlen und die tiefsten Sehnsüchte unerfüllt bleiben, ist anders als im Viktorianismus nicht die Moral, sondern die schweigende Voraussetzung der Romane Colin Dexters. Wenn Morse seinen Vornamen zum Kürzel entstellt, verweist dies auf die Unmöglichkeit von Liebe und Freundschaft, die allenfalls im Verzicht auf falsche Unmittelbarkeit bewahrt bleiben können. Und wenn sich die Erkenntnis der Wahrheit bei Morse nicht als Resultat selbstgefälliger Deduktionen einstellt, sondern als Gänsehaut, als kreatürlicher Schauer, der ihn jedesmal überkommt, wenn er der ­Lösung nahe ist, so zeigt dies, dass sie nicht der Übermacht des Subjekts über seinen Gegenstand entspringt, sondern jenem Augenblick, da der Panzer zerspringt und Einsichten zulässt, denen sich das auf Selbsterhaltung geeichte Ich versperrt. Morses Lieblingsautor ­Alfred Edward Housman, der im Spätviktorianismus seine besten Gedichte schrieb, dessen Mutter wie die von Morse in seinen frühen Lebensjahren starb, der gleich Morse seine Vornamen zu Initialen verkürzte und wie Morse seine akademische Karriere aufgab, hat seine Dichtungen mit Perlen verglichen, die in Austerschalen ruhen. Housman war homosexuell, Morses scheiternde Beziehungen resultieren daraus, dass er den Frauen, in die er sich verliebt, zu nahe und den Angehörigen seines eigenen Geschlechts zu fern ist. Die Frauen, die er liebt – ob die Schülerinnen und Studentinnen in »Last Bus to Woodstock« und »The Daughters of Cain« oder die Junggesellinnen in »The Dead of Jericho« und »The Jewel that was Ours« –, sehnen sich nach einer Autonomie, die ihnen als Privileg der Männer gilt, obwohl die sie längst nicht mehr besitzen. Das Verhältnis der Geschlechter erscheint als eines von Ohnmächtigen, die sich in Schweigen verschließen, um die letzten Spuren von Zartheit zu bewahren, die das Leben ihnen gelassen hat.
Auch Colin Dexter, der am 29. September 80 Jahre alt wird, musste auf eine Karriere als Oxford-Professor verzichten, weil er in frühen Lebensjahren taub geworden ist. Morses 1999 erschienenes Epitaph, »The Remorseful Day«, war sein letzter Kriminalroman. Seither hat er nur noch einen Ratgeber zur Lösung komplizierter Kreuzworträtsel publiziert. So haben sich Morses Fälle selbst in Austerperlen verwandelt, die nur glänzen sehen kann, wer von ihrer Existenz weiß. Die Chancen dafür sind hierzulande gering – aber wer will, kann sie finden.

Die Kriminalromane von Colin Dexter sind in deutscher Übersetzung bei Rowohlt erschienen. Die TV-Serie mit John Thaw und Kevin Whately ist beim Label itv erhältlich.