Vor 30 Jahren wurde der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat ermordet

Jihad gegen den Pharao

Vor 30 Jahren wurde der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat ermordet. Mit ihrem ersten spektakulären Terroranschlag wollten die Islamisten einen Aufstand auslösen.

Anwar al-Sadat war vor Attentätern auf der Hut. Als sein Geheimdienst Anfang September 1981 von Plänen erfuhr, den Präsidenten zu ermorden, begann eine Repressionswelle. Die meisten der mehr als 1 500 Verhafteten waren Mitglieder militanter islamistischer Gruppen, doch nutzte das Regime die Gelegenheit, um auch kritische Intellektuelle hinter Gitter zu bringen. Unter den Verhafteten war Mohammed Islambouli, ein führendes Mitglied der Jama’at al-Islamiyya (Islamische Gruppen), die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre mit dem Regime kooperiert hatten, nun aber verfolgt wurden. Wie viele andere Inhaftierte wurde Mohammed Islambouli gefoltert.
Für die Militärparade am 6. Oktober, die zum Gedenken an den Angriff auf Israel im Jahr 1973 abgehalten wurde, traf man Vorsichtsmaßnahmen. Munition wurde an die paradierenden Soldaten nicht ausgehändigt, alle Gewehre wurden kontrolliert, und der Geheimdienst überwachte die Militärangehörigen. Niemand wagte es, den für ihre Arroganz bekannten Agenten des Mukhabarat Fragen zu stellen. Dem Bericht Mohammed Heikals (»Autumn of Fury«) zufolge genügte es, dass der Artillerieleutnant Khaled Islambouli andeutete, seine den anderen Soldaten unbekannten Begleiter seien Mitarbeiter des Geheimdienstes, um sie in die Truppe einzuschleusen. Vier Attentäter sprangen während der Parade von einem Militärlastwagen, schossen auf die Ehrentribüne und warfen Granaten. Wenige Stunden später gaben die Behörden den Tod Präsident Sadats bekannt, mit ihm waren elf weitere Ehrengäste getötet worden.

Der Anschlag gilt als Vergeltungsaktion der Islamisten für Sadats Friedensschluss mit Israel. Khaled Islambouli hingegen gab vor Gericht ein anderes Motiv an: die Verhaftung und Folterung seines Bruders Mohammed. Die Repressionswelle bestätigte ihn offenbar in der Ansicht, Sadat sei ein »unislamischer« Herrscher, der beseitigt werden müsse. »Ich habe den Pharao getötet«, soll er nach dem Attentat gerufen haben.
Der 1979 unterzeichnete Friedensvertrag mit ­Israel spielte für die Jihad-Organisation, der Islambouli angehörte, nur eine untergeordnete Rolle. Als der Artillerieoffizier Ende September auf die Idee kam, die Parade für ein Attentat zu nutzen, wandte er sich an Muhammad Abd-al-Salam Faraj, den Führer und Ideologen der Jihad-Organisation, der die Mittäter rekrutierte. Faraj hatte die Broschüre »Die verborgene Verpflichtung« verfasst. Die Schrift wurde damals nur unter Organisationsmitgliedern verteilt, Farajs Thesen wurden jedoch später auch zur Grundlage der Ideologie von al-Qaida.
Die »verborgene Verpflichtung« ist für Faraj der Jihad, den er explizit als »heiligen Krieg« bestimmt. Nur der bewaffnete Kampf (qital) könne einen islamischen Staat schaffen, da »die Tyrannen dieser Welt nur der Macht des Schwertes weichen«. Den Jihad zu führen, sei die individuelle Pflicht jedes Muslims – eine im Gegensatz zur theologischen Tradition stehende Idee, die Ussama bin Laden später übernahm. Ägypten wähnte er im Zustand der Jahiliyya, ein Begriff, der eigentlich »Unwissenheit« bedeutet und mit dem tradi­tionell die vorislamische Epoche charakterisiert wird. Dem islamistischen Theoretiker Sayyid Qutb folgend, sah Faraj jedoch das Ägypten seiner Zeit im Zustand der Jahiliyya, da die Sharia nicht angewendet wurde. Den ursprünglich aus Europa importierten Antisemitismus hatte Qutb bereits 30 Jahre zuvor mit seiner Schrift »Unser Kampf gegen die Juden« islamisiert, doch befanden Jihadisten wie Faraj das Regime Sadats für unwürdig, diesen Kampf zu führen. Erst nach der »Islamisierung« dürfe der Krieg gegen Israel beginnen, da andernfalls ein Sieg das »heidnische« Regime stärken werde.

Das Urteil der Jihadisten wird Sadat nicht ganz gerecht. Immerhin blieb der ägyptische Präsident, der in seiner Jugend Mitglied der Muslimbruderschaft war oder dieser zumindest sehr nahestand, zeitlebens ein bekennender Antisemit, und unter seiner Herrschaft begann die staatlich verordnete »Islamisierung«. Bereits 1971, ein Jahr nach seiner Machtübernahme, als islamistische Gruppen noch nicht öffentlich in Erscheinung getreten waren, ordnete er eine Verfassungsreform an, die die Sharia zu einer Quelle der Gesetzgebung erklärte. Eine weitere Verfassungsänderung machte die Sharia neun Jahre später zur Hauptquelle der Gesetzgebung.
Die juristischen Konsequenzen blieben gering, folgenreicher waren die Bemühungen zur »Islamisierung« der Gesellschaft. Staatlich besoldete Prediger propagierten eine reaktionäre Islaminterpretation, die sich kaum von den Lehren islamistischer Oppositioneller unterschied. Überdies unterstützte das Regime Gruppen wie die Jama’at al-Islamiyya und duldete ihre Gewalttaten, an den Universitäten agierten die Islamisten im Kampf gegen Linke und linksnationalistische Anhänger Gamal Abd al-Nassers faktisch als Schlägertrupps des Regimes.
Sadat bedurfte einer nationalreligiösen Gemeinschaftsideologie, um der Unzufriedenheit entgegenzuwirken, die zugenommen hatte, seit mit Beginn der Privatisierungen und der Infitah (Öffnung) für ausländisches Kapital die sozialen Unterschiede größer wurden. Eben diese Unzufriedenheit nutzten aber auch militante islamistische Gruppen. Bereits 1974 gab es einen ersten Versuch, einen Aufstand zu initiieren. Die Islamische Befreiungsorganisation wollte die Regierung stürzen und einen islamischen Staat ausrufen, wurde jedoch nach dem Angriff auf eine Militärakademie schnell gestoppt.
Der Umsturz war auch das Ziel der Jihad-Organisation. Der Tod des »Pharaos« sollte die Ägypter, die 1977 beim Brotaufstand gegen die Kürzung der Nahrungsmittelsubventionen zu Millionen auf den Straßen protestiert hatten, zum Aufstand bewegen. Doch es beteiligten sich nur islamistische Kader an der Revolte. In der oberägyptischen Stadt Assiut wurde tagelang gekämpft, ansonsten aber blieb es ruhig. Mehr als 2 500 Menschen wurden wegen des Aufstands angeklagt, doch wurden die meisten nach relativ kurzer Zeit wieder freigelassen. Faraj und die vier Attentäter wurden 1982 hingerichtet.
Das Attentat auf Sadat war der erste spektakuläre islamistische Anschlag, es kann auch als erster Schritt zur Gründung von al-Qaida gelten. Ägyptische Jihadisten waren maßgeblich am Aufbau des Terrornetzwerks beteiligt. Einer von ihnen, Ayman al-Zawahiri, wurde nach dem Tod Ussama bin Ladens zum Führer von al-Qaida. Bereits zuvor galt er als der führende Ideologe. Die Grundlagen der jihadistischen Lehre, die Theorien Qutbs und Farajs, brachte er aus Ägypten mit, ebenso wie die Erfahrung des gescheiterten Aufstands. Der globale Jihad war eine Reaktion darauf, dass eine schnelle Machtübernahme sich als illusorisch erwiesen hatte.
Mit dem Attentat auf Sadat und der im selben Jahr endgültig durchgesetzten Alleinherrschaft des Staatsklerus im Iran, wo nun alle konkurrierenden politischen Gruppen beseitigt worden waren, begann jedoch auch die Ära, in der Islamisten nicht nur in Ägypten die wichtigste Oppositionsfraktion darstellten. In vielen arabischen Ländern standen sich nun der reaktionäre Staats­islam eines sich nur gegenüber dem westlichen Ausland säkular gebenden Regimes und der Islamismus gegenüber – feindliche Brüder, die einander brauchten und in die Hände arbeiteten.
Dies muss auch bei der Beurteilung der nun in Ägypten ausgebrochenen Debatte über den Friedensvertrag mit Israel berücksichtigt werden. Ungeachtet der Motive bleibt der Friedensschluss ein historisches Verdienst Sadats. In den Verhandlungen mit Israel war er ein Pragmatiker. Ägypten gewann die Sinai-Halbinsel mit ihren Ölquellen und Touristenorten, die Einnahmen aus dem Suez-Kanal sowie westliche Hilfszahlungen und Investitionen. Sadats Antisemitismus war nicht eliminatorisch, der »Held der Überquerung« des Suez-Kanals behauptete, aus einer Position der Stärke zu verhandeln, wusste aber sicherlich, dass Ägypten den Krieg 1973 ungeachtet der Anfangserfolge schließlich verloren hatte. Warum also eine nutzlose Konfrontation fortsetzen?

Die Bedürfnisse des Regimes forderten jedoch eine Ideologisierung. Die Staatskleriker, die 1973 den Jihad gegen die Juden gepredigt hatten, erklärten nun die Zustimmung zum Friedensschluss zur religiösen Pflicht. Dies führte zum Bruch zwischen den »gemäßigten« Islamisten und dem Regime, dürfte aber viele Ägypter desillusioniert und dazu bewogen haben, nach rationalen Erwägungen über den Friedensvertrag zu urteilen.
Nach Einschätzung der meisten Historiker gab es damals eine Mehrheit für den Friedensschluss, zumindest aber keine allgemeine Gegnerschaft. Doch die vom Regime versprochene und von der Bevölkerung erhoffte »Friedensdividende« blieb aus. Die Rüstungsausaben stiegen und die Infitah-Politik machte die Mehrheit der Ägypter, die auch von den auf dem Sinai erzielten Einnahmen wenig sah, eher ärmer als reicher. Kurzzeitig hatte Sadat die gemeinsamen abrahamitischen Wurzeln von Judentum und Islam betont, doch bald setzte die klassische antiisraelische Propagada wieder ein, die unter der Herrschaft Hosni Mubaraks noch 30 Jahre lang fortgesetzt wurde. Die Prediger in den nicht vom Regime kontrollierten Moscheen hetzten oft noch rabiater gegen Israel.
Auch die Nasseristen sowie die meisten traditionellen Oppositionsgruppen der Liberalen und der Linken teilen den antizionistischen Konsens. Angesichts dieser Verhältnisse sind nicht Bekundungen der Feindschaft gegenüber Israel erstaunlich, sondern die kritischen Debatten in der Demokratiebewegung. Bereits die erste ägyptische Revolution brachte eine Abwendung vom panarabischen und islamistischen Pathos mit sich, große Führer sind nicht mehr gefragt. Der seit dem Sturz Mubaraks regierende Militärrat setzt die alte Politik fort und will seine autoritäre Herrschaft als Garantie für die Einhaltung des Friedensvertrags darstellen, während gleichzeitig gegen »israelische Spione« gehetzt wird. Doch nur die Demokratisierung kann eine Aufarbeitung der ägyptischen Geschichte ermöglichen, die wiederum die Entideologisierung des Konflikts mit Israel erlaubt.