Das Hohelied der ­Zensur

Wird die Bibel für Briten bald im Internet nicht mehr frei zugänglich sein? Diese Frage ist noch nicht entschieden und nein, es hat nichts mit den Muslimen zu tun. Vielmehr will Premierminister David Cameron britische Provider verpflichten, ab Ende kommenden Jahres den Zugang zu pornographischen Seiten automatisch zu sperren, sofern die Nutzer dem nicht explizit widersprechen. Ob dies pornographische Texte betreffe, »hängt davon ab, wie die Filter arbeiten«. Deren Entwicklung möchte Cameron der Privatwirtschaft und einem System von trial and error überlassen. Viel hängt nun von der Firma Huawei aus dem zensurerfahrenen China ab, die nach Angaben von BBC diese Filter kontrolliert. Das schlüpfrige Hohelied (»Ich habe meinen Rock ausgezogen, wie soll ich ihn wieder anziehen?«) mag noch durchschlüpfen. Aber wie steht es mit »Lass uns unserm Vater Wein zu trinken geben und bei ihm schlafen, dass wir Samen von unserm Vater erhalten« (1. Moses 19:31)? Vielleicht wird auch gleich die gesamte Bibel als »esoterisches Material« eingestuft. Cameron will zwar angeblich nur Kinder vor Pornographie schützen, die NGO Open Rights Group hörte sich jedoch bei den Providern um und stellte fest, dass weitere Optionen vorgesehen sind. Man soll sich und die lieben Kleinen auch vor Websites bewahren, auf denen es um Alkohol, Esoterik, Zigaretten, Essstörungen, Suizid, Extremismus, Terrorismus, Webforen und andere Dinge geht, von denen ein anständiger Brite sich fernhält. Entgegen Camerons Ankündigungen dürfte sich die Regierung daher eine gewisse Kontrolle über die Kontrolle vorbehalten, schließlich müsste bei Anwendung rationaler Kriterien die jüngste Kampagne des Innenministeriums gegen Flüchtlinge (siehe Seite 15) als extremistisch eingestuft werden, und die Wirtschaftsprognosen der Tories sind ohne Zweifel »esoterisches Material«.
Doch Cameron denkt wahrscheinlich schon über den nächsten Schritt nach. Nur 20 Prozent der Britinnen und Briten treiben so viel Sport, wie die Regierung für richtig hält. Sollte da nicht bei jedem Browser-Start zunächst einmal die Website »Exercise!« erscheinen, die erst verschwindet, wenn der Nutzer den Anforderungen der Regierung Genüge getan hat? Zum Glück sind ja mittlerweile die meisten Bildschirme mit Kameras ausgestattet, die bislang – soweit bekannt – nur unzureichend genutzt werden. Auch zu gesunder Ernährung könnte man auf diese Weise ermutigen. Wird vor dem Bildschirm mehr als ein Schokoriegel verzehrt, schaltet sich der Browser automatisch ab. Aber man kann auch mit Anreizen arbeiten. Wer eine halbe Stunde Gymnastik getrieben, ausreichend Rohkost gegessen, die Nationalhymne gesungen und dem Premierminister für seine Fürsorge gedankt hat, darf sich zur Belohnung das Video von Prinz Harry beim Strip Billard in Las Vegas ansehen.