Das Programm der Berlinale

Kino unter Beschuss

Welcher Film lohnt und welcher langweilt? Das Programm der 65. Filmfestspiele ist gewohnt unübersichtlich.

Auch dieses Jahr spielen Provokation und Terror eine nicht zu unterschätzende Rolle auf der Berlinale – schön falsch verstanden. Kaum wurde das Programm verkündet, standen die Bösen vor der Tür. Nordkorea legte sofort gegen die Aufführung des Films »The Interview« Protest ein – man erinnere sich an die Debatte zum US-Start: In diesem Machwerk sollen Journalisten den nordkoreanischen Staatschef Kim Jong-un umbringen. Die Website der Firma wurde gehackt, Terrordrohungen wurden ausgesprochen. Es ist zu mutmaßen, dass der Verleihfirma Sony allen Ernstes eine Werbekampagne gelungen ist, die sogar den US-Präsidenten einbindet.
Nun soll der Film in Deutschland anlaufen, und zwar gleichzeitig mit den Filmfestspielen, aber nicht auf diesen. Kim Jong-un hat da was durcheinandergeworfen. Ärger wird jetzt nicht der Berlinale angedroht, sondern den ganz normalen Kinos. Glück gehabt!
Der Direktor der Berlinale, Dieter Kosslick, versichert aber auch: »Wir haben schon immer erhöhte Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, weil wir viel Publikum und immer wieder auch Staatsgäste haben. Unsere Sicherheitsabteilung arbeitet eng mit den Behörden zusammen.«
Na, das können sich ja alle Kritiker mal hinter die Ohren schreiben. Schlecht in provokanten Aktionen ist allerdings auch die Berlinale nicht. Vor Beginn hat sie keck die »Berlinale-Kameras« verliehen. Damit ehrt man »jedes Jahr Persönlichkeiten und Institutionen, die sich um das Filmschaffen besonders verdient gemacht haben und mit denen sich das Festival verbunden fühlt«.
Das sind 2015 die »Food-Aktivisten« Alice Waters und Carlo Petrini. Die eine hat ihr Restaurant nach einer Filmfigur benannt und geht mit Michelle Obama zusammen in den Gemüsegarten. Der andere hat Slow Food erfunden. Petrini kocht ohne Zusatzstoffe und setzt sich »für ein nachhaltiges Gleichgewicht zwischen Mensch und Mutter Erde« ein, wie es in der Laudatio heißt. Dem Cineasten bleibt trotzdem der Film vor Augen stehen. Was haben die Herrschaften mit dem Kino zu tun? Na, die Berlinale präsentiert seit zehn Jahren eine Kochfilmreihe.
Solche Eskapaden reichen! Das findet zum Beispiel Rüdiger Suchsland, Filmkritiker beim Deutschlandfunk. Und möchte den Direktor der Berlinale, der seit 2001 im Amt ist, in Rente schicken. Kosslick verleiht nicht nur Filmpreise an die Gastronomie, sein Vertrag wurde gerade per Handschlag von der Bundesregierung bis 2019 verlängert. Suchsland fasst zusammen: »Was für eine gestörte Kultur, die den regelmäßigen Wechsel nicht als etwas Selbstverständliches akzeptieren kann! Derart lange Amtszeiten tun niemandem gut.« Unter Kosslick habe die Berlinale an internationaler Bedeutung verloren, die Filme seien irrelevant. Er »steht für das Gegenteil von Offenheit, Vielfalt und kreativen Kontroversen. Er steht für nahezu alles, was am Gegenwartskino schlecht ist«. Überschrift der Generalabrechnung: »Der ewige Kosslick.«
Wie der »ewige Jude«, sagt der Festivalchef. Was die denn alle wollen. Dieses Jahr sei doch etwa der Wettbewerb topaktuell. Zum Thema Folter gibt es den Dokumentarfilm »Der Perlmuttknopf« über die Geschichte Chiles von der Kolonisierung bis zu Pinochet. Auch wird die katholische Kirche am Beispiel Kindesmissbrauch auseinandergenommen (»The Club«). Religiöser Wahn wie auch Rassismus kriegen ihr Fett weg (»Aferim!« aus Rumänien). Der malende Regisseur Peter Greenaway ist dabei, auch der Filmschnitt-Philosoph Terrence Malick wird das Publikum strapazieren. Insgesamt 19 Filme werden um den Goldenen und die Silbernen Bären konkurrieren. Wim Wenders’ »Every Thing Will Be Fine« wird auch gezeigt. Und außer Konkurrenz ist »Elser« von Oliver Hirschbiegel zu sehen, über den Hitler-Attentäter Georg Elser. Als Innovation präsentiert das Filmfest dieses Jahr eine Schau kompletter Fernsehserien. Und 400 Filme in tausenden von Screenings.
Die Devise heißt: Unübersichtlichkeit. Die möglicherweise für Durchblick sorgt. Anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee zeigt das Forum der Berlinale Filme zum Holocaust-Gedenken. Der 1977 erschienene Film »Ha’makah ha’shmonim ve’ahat« besteht aus Material des Eichmann-Prozesses von 1961. »Me’kivun ha’yaar« von Limor Pinhasov Ben Yosef und Yaron Kaftori Ben Yosef bringt Massenerschießungen von Juden in den Wäldern Litauens ins Gedächtnis. Und die Kochreihe? Präsentiert standesgemäß einen Film zum Thema Essen im Konzentrationslager: »Festins imaginaires«. Außerdem gibt es Marcel Ophüls’ großformatige, kaum gezeigte Kriegsverbrecheranalyse »The Memory of Justice«.
Hat sich außer Suchsland und Nordkorea sonst noch wer beschwert? Ja. Der Iran hat sich despektierlich darüber geäußert, dass Jafar Panahi seinen Film »Taxi« im Wettbewerb zeigen kann. »Die Berlinale gehörte mal zu den drei wichtigsten Filmfestspielen der Welt, verfolgt aber in den letzten Jahren mehr politische Ziele«, heißt es aus den Reihen iranischer Kulturbeamter. Das zeige sich besonders an der übertriebenen Aufmerksamkeit für Panah. »Egal welche Qualität seine Filme haben, besteht die Berlinale darauf, die Filme zu zei-gen und sie auch, soweit es geht, mit Preisen auszuzeichnen.«
Voll die Kracher sind Panahis Filme jetzt nicht. Aber der Mann steht unter Hausarrest und dreht mit dem I-Phone Filme, in denen sein Hausleguan die Hauptrolle spielt. Die Berlinale hat ihm eine ständige Einladung ausgesprochen, da er vor vier Jahren Jurymitglied war und nicht ausreisen durfte. Panahi war wegen seiner Kritik an der iranischen Regierung im Dezember 2010 zu sechs Jahren Haft und einem 20jährigen Berufs- und Ausreiseverbot verurteilt worden – das Urteil wird jedoch wankelmütig vollstreckt.
Der Iran möge sich beruhigen. Der iranische Spielfilm »Paridan az Ertefa Kam« zum Beispiel, der im Panorama läuft, ist auch nicht unbedingt ein Rockkonzert. Sagen wir so: Im iranischen Festivalkino haben die Menschen 24 Stunden am Tag dermaßen Zahnschmerzen, dass im Kühlschrank die Milch versauert. An der Wand hängt kaum mal ein Bild, Teheran ist grau, auch wenn’s ein Farbfilm ist. Und wenn das iranische Kino in Topform ist, kommt es aus Afghanistan. Die Heldin in »Paridan« hat übrigens behandlungswürdige Depressionen, weil sie mit einem toten Kind im Bauch herumlaufen muss. Alle Menschen hassen sie.
Und dann versteht sich das Festival eben als politisch. Wenn es anders wäre und man nach irgendwie gearteten Kriterien der reinen Filmkunst ginge, könnte man ein paar Länder gleich von der Zulieferliste streichen. Jahrelang wurde argumentiert, andere Festivals seien besser als die Filmfestspiele in Berlin, die wichtigen Regisseure gingen mit ihren Premieren woanders hin. Aber Cannes kocht auch nur mit Wasser, die Gewinnerfilme von woanders sorgen zuweilen auch für prima Schlaf – Festivalfilm bleibt Festivalfilm. Und mehr als Darren Aronofsky als Jury-Präsident – der womöglich experimentellste Mainstream-Filmemacher derzeit – lässt sich nur schlecht auffahren.
Noch ein Filmtipp: »Iraqi Odyssey« von Samir. 100 Jahre irakische Widerstandsgeschichte als 3D-Familienstory. Toll auch »I Am Michael«: James Franco als hochengagierter Queer-Aktivist – der als radikaler kampfheterosexueller Christusprediger endet. So schön ist Kino.

Bis 15. Februar. www.berlinale.de