Berlin Beatet Bestes. Folge 324.

Heute hält man nichts mehr aus

Berlin Beatet Bestes. Folge 324. Whiskydenker: Wir bleiben hier (2015).

Wieder mal Jazz. Jazz, Jazz, Jazz. Jazz gespielt auf uralten Instrumenten wie Trompete, Tuba und Banjo. Klingt wie der Tod und ist noch nicht mal laut. Zombiejazz. Was soll das? Was hat uns Jazz zu bieten angesichts der technischen Möglichkeiten, mit denen heute Musik gemacht wird? Sehr viel! Jazz ergibt heute so viel Sinn, gerade weil er keine Lautstärke braucht. Weil doch die Lautstärke insgesamt abgewirtschaftet hat. Rockbands alter Schule wie Motörhead wollten wenigstens noch zerstören, wollten wehtun. Die Fiesheit des Sounds sollte körperlich spürbar sein.
Als Rockfan hast du geradezu erwartet, dass dir deine Lieblingsband musikalisch in die Fresse haut. Dir sollte das Blut aus den Ohren tropfen.
Lautstärke war immer eines der wichtigsten Stilmittel von Rockmusik. Das wusste ich schon Jahre, bevor ich selbst auf Konzerte ging. Ich erinnere mich, dass unsere Französischlehrerin in der 7. Klasse damit angab, dass sie nach einem Deep-Purple-Konzert tagelang taub war. Und es beeindruckte uns, schließlich galt Deep Purple als lauteste Band der Welt, mit 10 000 Watt starken Marshall-Türmen kamen sie auf bis zu 117 Dezibel. Aber welcher Musikfan will so etwas heute noch? Wer kann das noch aushalten, in Zeiten, in denen sich von Kopf bis Fuß Tätowierte die Ohren zuhalten, wenn ein Rettungswagen mit Sirene vorbeifährt? Und welche Band kann sich das noch leisten? Denn abgesehen davon, dass die Siebziger-Jahre-Dezibel-Power von Deep Purple heute vielerorts nicht mehr geduldet wird, würden Konzerte dieser Lautstärke haufenweise Anzeigen wegen Körperverletzung nach sich ziehen. Und so klingen Rockbands dann eben auch gezähmt. Pseudolaut, pseudowütend, pseudohart.
Warum dann nicht gleich leisere Töne anschlagen? Nun gehören die Whiskydenker zwar nicht zu den softesten Jazzbands, aber Jazz bleibt Jazz. Ihr jüngstes Album ist sehr gelungen. Wieder setzt die Band auf deutschsprachige Texte und poppige Melodien, allerdings gebrochen von Florian Wehses schroffer Stimme. Während traditionelle Swing- und Jazzbands überwiegend »schöne Stimmen« vorstellen, brät Flo Wehse richtig los. Musikalisch sind die neuen Songs differenzierter als die des vorangegangenen Albums »Ballhausmiezen«, besonders gut gefällt mir die neue Version ihrer Hit-Single, der Berlinhymne »Berlinist« aus dem Jahr 2012. Frisch aufpoliert kann der Song auch 2016 wieder seine widerständige Wirkung entfalten:

»Berlin ist eine Wolke,/sag’n die Leute./Und ja, es gibt hier alles,/was man braucht./Tät’ ich nich’ schon hier wohnen,/tät’ ich herzieh’n./Ich bin schon lange Zeit hier untergetaucht./Menschen kommen, Menschen geh’n,/ich bleib hier./Denn dies ist meine Stadt,/hier find’ ich’s schön./Berlin ist eine Wolke …/Und find’st du’s nicht mehr schön,/kannst du nach Hause gehen./Und find’st du’s nicht mehr fein,/dann geh doch heim, du Spießerlein.«

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.