Der Berg ruft
Es ist nicht einfach, Lady Gaga und Jennifer Lopez die Schau zu stehlen. Man hätte sich darüber streiten können, welche von beiden das kulturelle Highlight der Amtseinführung Joe Bidens am 20. anuar dargeboten hat, wenn danach nicht noch Amanda Gorman mit »The Hill We Climb« als Überraschungsstar aufgetreten wäre. Selten, wenn überhaupt jemals, hat der Vortrag eines Gedichts bei einem Staatsakt so viel Aufmerksamkeit erregt – eine Aufmerksamkeit allerdings, die derzeit weniger dem Werk und seinem Platz in der Gesamtinszenierung gilt als der Frage, wer befugt ist, es zu übersetzen. Über identitätspolitische Einschränkungen beklagen sich nun am lautesten jene, die das Gedicht in keiner Übersetzung lesen werden.
Jene, die für die Übersetzung eine größtmögliche Nähe zu den Lebensumständen Gormans fordern, übergehen hingegen etwas in der Identitätspolitik nicht Vorgesehenes, aber der Dichterin wohl sehr Wichtiges: ihren Glauben. Sie steht in der Tradition der christlich geprägten US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Viele Anspielungen und Wendungen biblischen Ursprungs in ihrem Gedicht können zwar als mittlerweile säkularisiert betrachtet werden, doch in den Zeilen »Scripture tells us to envision hat everyone shall sit under their own vine and fig tree« wird der religiöse Hintergrund explizit. Muss man christlich sein, um für »envision« eine treffendere Übersetzung als »sich vorstellen« zu finden, eine, die die Aufforderung wiedergibt, ein spirituelles Ideal zu verwirklichen? Wohl nicht, aber man könnte hier ja mal die Probe aufs Exempel machen. Aufgrund der Kürze des Textes – wohl niemand würde mehrmals das gleiche Buch von Dostojewski hintereinander lesen – ergäbe sich die Chance, verschiedene Übersetzungen zu erstellen und die Ergebnisse zu vergleichen.
Aber ist hier, wo der Vortragsstil eine so große Rolle spielt, eine schriftliche Übertragung überhaupt angemessen? Und müsste nicht der Kontext berücksichtigt werden? Vor allem Linke werfen Gorman ihr Pathos vor. Aber »The Hill We Climb« ist kein Liebesgedicht und eine Amtseinführung kein Poetry Slam. Rhetorik und Poesie des Freiheitskampfs, von »Allons enfants de la Patrie« über »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« bis »I have a dream«, sind nun mal pathetisch. Bidens Amtseinführung war nicht nur ein ritueller Staatsakt, sondern auch eine Siegesfeier der Demokratie nach dem Sturm auf das Kapitol und ein Versuch, die Nation neu zu definieren – unter Ausschluss der »force that would shatter our nation« (Gorman), also der extremen Rechten. Die Inszenierung war eine hervorragende Leistung der Staatskunst, und in diesem Kontext hat Gormans Staatskunst historische Bedeutung. Die Rechten haben das sofort begriffen. Dass »die extremeren Ideen in einem Gedicht direkter ausgedrückt werden als in Bidens Rede, ergibt Sinn und ist vielsagend«, kommentierte David Marcus noch am Tag der Amtseinführung im Online-Magazin The Federalist.