In Chile hat der linke Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric die Stichwahl gewonnen

Abkehr vom Erbe Pinochets

In Chile hat der linke Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric die Stichwahl gewonnen, doch die politische Rechte bleibt einflussreich.

Hoffnung und Würde – das sind die Stichworte, die am Abend nach der Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile immer wieder fallen. »Am Ende hat die Würde gewonnen, es hat die Hoffnung gewonnen, auf die wir alle so lange gewartet haben«, sagte eine Demonstrantin bei den Feierlichkeiten in der Hauptstadt Santiago dem staatlichen Fernsehsender TVN. Tausende waren am Wahlabend des 19.Dezember gekommen, um den Sieg des linken Kandidaten Gabriel Boric zu feiern.

Dieser trat als Kandidat des Bündnisses Apruebo Dignidad (Ich befürworte Würde) an, dem die Frente Amplio, ein 2017 gegründeter linker Parteizusammenschluss, und die Kommunistische Partei angehören. Seinen extrem rechten Gegner José Antonio Kast hat er klar besiegt: 55,87 Prozent der Wählerinnen und Wähler und damit 4,6 Millionen Menschen haben für Boric gestimmt, elf Prozentpunkte mehr als für Kast.

Bereits nachdem die Hälfte der Stimmen ausgezählt war, gestand Kast seine Niederlage ein und gratulierte Boric telefonisch. Kurze Zeit später beglückwünschte Chiles scheidender Präsident Sebastián Piñera Boric per Videoanruf, wobei er die anstehenden Herausforderungen erwähnte – das Wichtigste sei, sie bedachtsam und vereint anzugehen.

Obwohl die letzten Umfragen, die in Chile gut zwei Wochen vor der Wahl veröffentlicht werden durften, einen recht deutlichen Sieg Borics vorhergesagt hatten, kam das Ergebnis mit diesem Abstand überraschend. Ein wichtiger Faktor war die Wahlbeteiligung: Hatten in der ersten Runde nur 47 Prozent der Wahlberechtigten abgestimmt, war es nun mit 55 Prozent der höchste Anteil seit Abschaffung der Wahlpflicht 2012. Vor allem mehr Jüngere und Frauen gingen wählen und stimmten überwiegend für Boric.

Vor der Stichwahl hatten beide Kandidaten versucht, unentschiedene Wählerinnen und Wähler der Mitte zu überzeugen. Kast, Sohn eines deutschen Wehrmachtsoffiziers sowie Pinochet-Nostalgiker, versuchte, sein ultrarechtes Image abzulegen. Boric ging auf die Themen ein, bei denen sein Kontrahent in der ersten Runde punkten konnte: innere Sicherheit, Wirtschaft, Drogenhandel und illegale Einwanderung.

Drei Tage vor der Stichwahl brachte der Tod von Augusto Pinochets Witwe Lucía Hiriart noch einmal die Diktatur zurück in die öffentliche Auseinandersetzung. Eine Stimme gegen Kast war eine Stimme gegen Pinochet-Nostalgie und autoritäre Tendenzen. »Die Alte ist gestorben«, schallte es durch die Straßen von Santiago de Chile. Die Melodie war die gleiche wie vor gut zwei Jahren, als die Menge »Chile ist aufgewacht« skandierte. Borics Wahlsieg gilt als Erfolg der Protestbewegung, die einen verfassunggebenden Prozess in Gang gesetzt hat. Er selbst ist vielen in der Bewegung zwar zu gemäßigt – gegen den extrem rechten Kast erhielt er aber breite Unterstützung.

Insbesondere feministische Bewegungen hatten sich für den linken Kandidaten eingesetzt – vor allem bei jenen, die in der ersten Runde nicht abgestimmt hatten. Dabei erwies es sich für manche diesmal als Schwierigkeit, zum Wahllokal zu kommen: Ausgerechnet am Wahltag waren deutlich weniger Busse unterwegs als gewöhnlich, sowohl im Großraum Santiago de Chile als auch auf dem Land – nun soll untersucht werden, ob es sich gezielte Wahlbehinderung handelte. Schwierigkeiten, ans Ziel zu kommen, hatte auch Boric, als er mit dem Auto durch die Menschenmassen in der Hauptstadt zur Wahlparty fuhr. Er ging die letzten Meter zu Fuß, drängte sich an den Feiernden vorbei, kletterte über Absperrungen und erreichte schließlich die Bühne.

Dort hielt er seine erste Rede als designierter Präsident – die er in Mapudungun, der Sprache der indigenen Mapuche, begann: Seine Regierung werde sich für die Rechte aller Menschen in Chile einsetzen, für die Rechte der Frauen und Queers, für mehr soziale Gerechtigkeit und eine öffentliche Daseinsvorsorge sowie für einen entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen für die Bevölkerung. Seine Regierung werde »mit beiden Füßen auf der Straße stehen«, statt hinter verschlossenen Türen zu agieren, so Boric. Dafür müsse man die demokratischen Institutionen stärken, entscheidend sei auch die neue Verfassung. Der Verfassungskonvent könnte auch bedeutende institutionelle Veränderungen beschließen, etwa die Macht des Präsidenten beschneiden, wodurch vorgezogene Neuwahlen erforderlich würden – vorausgesetzt, die neue Verfassung wird im Plebiszit im kommenden Jahr angenommen.

Zehn Jahre nachdem Gabriel Boric als Vorstandsmitglied und späterer Präsident der Studierendenorganisation Fech die Proteste 2011 anführte, wird er nun Staatspräsident. Beim Amtsantritt im März 2022 wird er mit 36 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles und einer der jüngsten Staatschefs der Welt sein. Dann wird sich zeigen, wie viel von seinen Überzeugungen aus aktivistischer Zeit übriggeblieben ist. Seine Gegner stilisieren ihn zum Sozialisten, obwohl sein Programm stark sozialdemokratische Züge trägt.

Er werde auch ein Präsident für diejenigen sein, die für Kast gestimmt haben, versprach Boric in seiner Rede. In den Kammern des chilenischen Kongresses muss Boric Kompromisse eingehen, denn seine Koalition Apruebo Dignidad hat keine Mehrheit. Im Abgeordnetenhaus überwiegen zwar die Vertreter der Linken und der linken Mitte leicht, im Senat jedoch liegen sie mit rechten bis ultrarechten Kräften gleichauf.

Der Historiker Sergio Grez zeigte sich bereits vor der Wahl skeptisch, für wie viel Veränderung Boric tatsächlich stehe. Außerdem bleibe die politische Rechte auch nach Kasts Niederlage stark, »insbesondere wenn die wirtschaftliche und soziale Krise nicht bald gelöst wird«, so Grez im Interview mit dem linken Online-Magazin El Irreverente. »Die strukturellen Probleme können nicht mit einer Politik der halben Sachen gelöst werden«, mahnte er.

Trotz der Unsicherheit über Borics zukünftige Wirtschaftspolitik – seine Wahl erhöht die Chancen auf politische Veränderungen und stärkt den verfassunggebenden Prozess. So twitterte die Präsidentin des Verfassungskonvents, Elisa Loncón: »Der Weg zur neuen Verfassung öffnet sich mit Würde, Gerechtigkeit, Zärtlichkeit, Plurinationalität und unsere Unterschiede respektierend.«