Eine kleine Geschichte des Kopfhörers als Modeaccessoire

Freiheit für die Ohren

Mit den Möglichkeiten, unterwegs Musik zu hören, haben sich auch Kopfhörer rasant entwickelt – technologisch wie ästhetisch.

2019 bemerkten Käufer etwas Seltsames: Der britische Versandhändler Asos verkaufte drahtlose In-Ear-Kopfhörer im Stil der von Apple produzierten Airpods für sechs Pfund. Was daran eigenartig war? Die Dinger konnten keine Musik wiedergeben. Sie waren stumm, reines Accessoire. Und sie fanden Käufer, weil sie schick aussahen und somit vortäuschten, ihre Träger und Trägerinnen könnten sich hübsche und teure Kopfhörer leisten. Wenn etwas den Wandel von Kopfhörern zu modischen Accessoires, zu fashion cans, symbolisierte, dann dies. War zuvor schon die Tonqualität zweitrangig, brauchte es nun nicht einmal mehr Ton.

Der Beginn der Wandlung des Kopfhörers vom Werkzeug beim Militär und in Tonstudios zur Modebotschaft liegt noch nicht so lange zurück. Alles begann 1979. Zuvor waren Kopfhörer in der Öffentlichkeit nur selten zu sehen gewesen. Zwar gab es bereits seit den späten sechziger Jahren mobile Kopfhörer mit eingebauten Transistorradios, aber die waren außerhalb der USA eine absolute Rarität und boten nicht das, was Musikliebhaber wollten, nämlich die Möglichkeit, die eigene Lieblingsmusik zu hören – logisch, denn die die Kompaktaudiokassette wurde erst um 1968 kommerziell bedeutsam.

 1980 musste man für einen Sony-Walkman stolze 400 D-Mark bezahlen. Entsprechend oft wurden sie geklaut.

1979 brachte Sony den ersten Walkman auf den Markt und eine neue Welt tat sich auf. Plötzlich konnte man Musik, die man mochte, immer und überall hören statt nur zu Hause, im elternsicheren Bunker eines Kumpels oder in der Disko. Für Menschen, die nach 1995 geboren wurden und mit Bluetooth groß geworden sind, mag das Umwerfende daran nicht nachvollziehbar sein, aber wer dabei war, erinnert sich, wie begehrt die Geräte waren. Vor allem anfangs waren sie auch ein Statussymbol, denn 1980 musste man für einen Sony-Walkman stolze 400 D-Mark bezahlen. Entsprechend oft wurden sie geklaut, billigere Konkurrenzprodukte reichten nie an den Nimbus des Sony-Walkmans heran.

Dennoch fielen die Preise rasant und ein Walkman (der Produktname des Sony-Geräts bürgerte sich als Gattungsbegriff für mobile Abspielgeräte ein) wurde im Laufe der achtziger Jahre für fast alle erschwinglich. Je mehr Menschen einen hatten, umso mehr Varianten tauchten auf. Nicht nur die Abspielgeräte waren bald in mehreren Designs und Farben bis hin zu welchen mit Hello-Kitty-Motiv erhältlich, sondern auch die Kopfhörer. Es gab sie in Schwarz, Blau, Pink und Rot, und findige Unternehmer boten alsbald weitere Farben und Formen an. Handwerklich Begabte lackierten ihren Walkman und die Blechbügel ihrer Kopfhörer sogar in ihren Lieblingsfarben.

Die Tonqualität der Walkman-Kopfhörer war für die meisten Menschen ausreichend. Wichtiger für den Erfolg des Geräts war ohnehin die Mobilität. Es ist kein Zufall, dass der Welterfolg des Walkman mit dem Aufkommen der ­Fitnesskultur zusammenfiel. Menschen fingen plötzlich an, zu laufen, ohne verfolgt zu werden, und unterwarfen sich in streng riechenden Studios freiwillig harter körperlicher Arbeit, ja bezahlten sogar dafür. Um diese Qualen, die man zwecks Steigerung von Wohlbefinden und vor allem Attraktivität auf sich nahm, erträglicher zu machen, kam die Möglichkeit, dabei die eigene Lieblingsmusik zu hören, gerade recht. Zusätzlich konnte man Kassetten erwerben, die Trainingsprogramme und Trimm-dich-Tipps zu Gehör brachten.

200 Millionen Mal verkaufte Sony allein den Kassetten-Walkman, rund 100 Millionen Mal noch dessen Nachfolger, den CDs abspielenden Discman. Doch dessen Nachfolger, der digitale Walkman, floppte, weil er zunächst nur das proprietäre Sony-Dateiformat Atrac unterstützte. Und dann betrat Apple mit dem iPod die Bühne und dominierte bis zum Durchbruch von Musik-Streaming-Diensten die Welt der portablen Abspielgeräte. Die zugehörigen, im markanten Apple-Weiß gehaltenen Earbuds waren das neue Statussymbol in Straßenbahnen und auf Schulhöfen und wurden daher so oft gefälscht wie gestohlen.

Das Urmodell aller fashion cans war wohl der Sennheiser HD 414. Der Kopfhörer mit seinen markanten knallgelben Ohrpolstern kam 1968 auf den Markt und wurde bis in die neunziger Jahre hinein verkauft. Der später auch mit blauen und schwarzen Schaumstoffpolstern angebotene Kopfhörer unterschied sich in den Augen der Konsumenten so wohltuend vom ­damals vorherrschenden klobigen und stets ein­heitlich schwarzen Hi-Fi-Design, dass er sich mehr als zwei Millionen Mal verkaufte. Dass er auch noch recht okay klang, war da mehr Bonus als Hauptgrund für den Kauf.

Der HD 414 war freilich ein kabelgebundener Hörer, der für den Einsatz im eigenen Wohnzimmer konzipiert war. Er war »offen«, ließ also Schall nach außen dringen und war schon deswegen nicht wirklich für den mobilen Einsatz geeignet. Zwar waren die Walkman-Kopfhörer ebenfalls offen, doch waren sie aus technologischen und gesundheitlichen Gründen lautstärkebegrenzt. Selbst ein voll aufgedrehter Walkman ließ sich in der Umgebung allenfalls als Säuseln wahrnehmen. Mit ausgewachsenen Hi-Fi-Kopfhörern sieht die Sache anders aus. Wer heutzutage mit einem Kopfhörer offener Bauart laut Musik hört, lässt den ganzen Bus oder das ganze Büro am Musikgenuss teilhaben. Deswegen sind die allermeisten Kopfhörer, die für den mobilen Einsatz ­gebaut werden, geschlossen.

Der endgültige Durchbruch mobiler Kopfhörer kam mit dem MP3-Format. Dieses wesentlich vom deutschen Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen entwickelte Kompressionsverfahren erlaubte es, Musikdateien so weit zu schrumpfen, dass sie auf mobilen Geräten gespeichert und später auch über das Mobilfunknetz gestreamt werden konnten, ohne gleich das ganze Datenvolumen der Konsumenten aufzufressen. Anbieter wie Spotify betraten die Bühne und mit immer besseren ­Internetverbindungen folgten immer mehr Mitbewerber, die inzwischen den Inhalt ihre Musikkataloge in CD-Qualität (44.1 kHz/16 Bit) oder sogar in noch höherer Auflösung anbieten.

Ob Apple Music, Amazon Music, Tidal, Qobuz, Deezer, Youtube Music oder Napster: Gegen eine monatliche Gebühr, die je nach Streaming-Qualität meist zwischen zehn und 20 Euro liegt, sind Dutzende Millionen Tracks nur mehr einen Klick entfernt. Wer Musik nicht als physisches Medium sammelt, zum Beispiel als Vinyl oder CD, braucht nur ein Smartphone mit Internetanbindung und schon steht ihm die umfangreichst bestückte Musiksammlung aller Zeiten offen.

Seit jedes Smartphone potentiell fast jede jemals aufgenommene Musik abspielen kann, ist der Markt für Kopfhörer natürlich explodiert. Man kann die mobilen Kopfhörer grob in zwei Gruppen einteilen: On- und Over-Ears liegen auf den Ohren auf oder umschließen sie, während In-Ears und Earbuds in den Gehörgang eingeführt werden. Alle vier Varianten gibt es kabellos mit Bluetooth oder mit Kabeln.

Welche Kopfhörer man wählt, ist einerseits eine Frage modischer Vorlieben, da In-Ears natürlich ein bisschen weniger auffallen als Over- oder On-Ears mit ihren über den Kopf greifenden Bügeln, und andererseits auch eine des Alters: Ältere Herrschaften sieht man öfter mit On- oder Over-Ears, weil sie es immer schon so gewöhnt waren. Klangtechnisch haben beide Varianten ihre Stärken und Schwächen. Inzwischen sind einige der besten und teuersten Kopfhörer der Welt In-Ears, weil die Minilautsprecher (Audiotreiber genannt) so dicht ans Trommelfell heranreichen wie nur irgend möglich. Das gestattet eine fast unnachahmliche Transparenz und Exaktheit bei der Musikwiedergabe. Der Nachteil: In-Ears können, hört man zu laut mit ihnen, schneller zu Problemen wie Tinitus, Hörverlust oder, da man mit ihnen ja stets den Ohrenschmalz zurück in den Gehörgang drückt, zu dessen Verstopfung führen.

On- und Over-Ears haben größere Treiber und damit wenigstens theoretisch das Potential, weiträumiger und dramatischer zu klingen. Außerdem tendieren diese Hörertypen, falls man es nicht mit der Lautstärke übertreibt, weniger als In-Ears dazu, Ge­hörschäden zu verursachen. Wegen der vielen Außengeräusche ist ein Kauf­kriterium auch, ob die Kopfhörer so gebaut sind, dass sie Umweltlärm möglichst abschirmen.

Designs gibt es inzwischen so viele wie nie zuvor. Vom nerdigen Retro-Look bis zu Schmuckstücken mit Gold- und Silberlackierung ist alles zu haben. Es dürfte wirklich jeder und jede Kopfhörer finden, die optisch zu seinem oder ihrem Stil passen. Ob man Kopfhörer mit Kabeln oder kabellos bevorzugt, war lange eine Streitfrage zwischen Audiophilen, die auf Kabelverbindungen schwören, und allen anderen, die keinen Unterschied zwischen einer über via Bluetooth übertragenen MP3 und einer Datei im Flac-Format mit stolzen 192 kHz/24 Bit hören können. Immerhin, diese Debatte dürfte sich bald erledigt haben, denn neue Bluetooth-Codecs, die auch ohne Kabel eine verlustfreie Datenübertragung erlauben, sollen schon dieses Jahr auf den Markt kommen.