Hermann Borchardt schrieb als Ghostwriter an Ernst Tollers „Pastor Hall“ mit

»Das klingt doch nicht nach Toller!«

Die britische Verfilmung von 1940 machte Ernst Tollers letztes Theaterstück »Pastor Hall« weltberühmt. Dass die Szenen aus dem Konzentrationslager von dem ehemaligen Häftling Hermann Borchardt geschrieben wurden, stritt Toller ab. Der nun erschienene zweite Band der Werkausgabe Hermann Borchardts liefert dazu neue Erkenntnisse.

Im Juni 1938 las Ernst Toller, Dramatiker und Held der Münchner Räte­republik, im New Yorker Mayflower Hotel erstmals aus seinem neuen Theaterstück über einen im Konzentrationslager inhaftierten Pastor, das schließlich »Pastor Hall« heißen sollte. Einen Monat später lud George Grosz, der große Karikaturist der Weimarer Republik, den mit ihm befreundeten Maler Arthur Kaufmann und seinen Freund Hermann Borch­ardt zu sich ein. Am Tisch kam die Runde darauf zu sprechen, dass der Journalist Ludwig Lore nach Tollers Lesung ausgerufen haben soll: »Das klingt doch nicht nach Toller!« Kaufmann, der der Lesung ebenfalls beiwohnte, stimmte zu und ergänzte: »Es müsste schon ein ganz neuer Toller sein!« Da wandte sich Grosz mit Freude, dem Gast eine Überraschung bieten zu können, an Kaufmann: »Da sitzt der Autor des neuen Toller-­Stückes!« Seine ausgestreckte Hand zeigte auf Hermann Borchardt.

Was war geschehen?

Zum Krach kommt es, als Toller einen anderen Ausgang des Stücks fordert. Borchardt wehrt sich gegen »reißerische Mitleidseffekte« und unterstellt Toller, er habe die »religiös-rebellische Konzeption« seines Stücks nie verstanden.

Ein Jahr zuvor, im Juni 1937, hatte Grosz seinen gerade aus dem KZ ­Dachau entlassenen Freund Borch­ardt auf Ellis Island in Empfang ­genommen. Zuvor war Borchardt in den KZ Esterwegen und Sachsenhausen inhaftiert gewesen. Der im Brotberuf als Lehrer tätige Schriftsteller und Philosoph wurde im April 1933 von einem Kollegen aufgrund einer als antideutsch angesehenen Abituraufgabe denunziert. Borchardt flüchtete umgehend nach Paris und trat im Januar 1934 eine Professur für Deutsch als Fremdsprache an der Universität in Minsk an. Als er sich zwei Jahre später weigerte, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde er des Landes verwiesen. In der Not kehrte Borchardt, dessen Vater Jude war, mit der Familie nach Berlin zurück, wo ihn die Gestapo unter dem Vorwand der unerwünschten ­Remigration im Juli 1937 verhaftete. Es ist den gemeinsamen Anstrengungen seiner Frau Dorothea und der Freunde Bertolt Brecht, an dessen »Heiliger Johanna der Schlachthöfe« er maßgeblich beteiligt war, und George Grosz zu verdanken, dass er aus dem Lager entlassen wurde.

Letzterer nahm Borchardt für einige Monate in seinem Haus auf Long ­Island nahe New York auf. Um seinem Freund zurück ins Leben zu helfen, schlug Grosz vor, Borchardt könne als Ghostwriter für Ernst Toller eine »unterirdische literarische Existenz« begründen. Toller war da im Exil bereits ein etablierter Schriftsteller und hatte einen Autorenvertrag mit den MGM Filmstudios.

Im Frühjahr 1938 treffen sich Borch­ardt und Toller erstmals und ver­abreden, dass jener das Szenario zu »Befreiung des Pastors Müller« lie­fere, wenn dieser sich um ein Stipendium für ihn bemühe und andere Texte von ihm an Verlage vermittle, etwa dessen sogenanntes »Lagerbuch«, in dem Borchardt beschrieb, was ihm in der KZ-Haft widerfahren war.

Eine gewisse Ironie liegt der Zusammenarbeit der beiden so verschiedenen Persönlichkeiten zugrunde. Als Borchardt 1927 sein erstes Theaterstück »Die Bluttat in Germersheim vor dem ewigen Richter« schrieb (sie galt jahrzehntelang als verschollen und wurde während der Arbeit an der Werkausgabe wiederentdeckt), spöttelte er über »Herrn Toller mit der Schmachtlocke«, als dieser mit »Hoppla, wir leben!« (1927) in Berlin einen Erfolg feierte. Toller stand gern in der ersten Reihe der Politik, blieb bis zum Lebensende überzeugter Antifaschist und war in der linken Emigrantenszene New Yorks hervorragend vernetzt. Borchardt verblieb hingegen immer in der zweiten Reihe und wollte, einst Mitglied des revolutionären Berliner Arbeiterrats, nach seinen Erfahrungen in der Sowjetunion weder vom Kommunismus noch, wie er selber sagte, von der »Tätigkeit der Leftist Emigrants« etwas wissen.

Zunächst gewährt Toller seinem Ghostwriter große Freiheit bei der Dramatisierung der Geschichte des widerständigen Pfarrers, der verhaftet und ins KZ gesperrt wird. Borch­ardt liefert zwei fertig ausgeführte Akte und mindestens zwei Szenen eines dritten. »Ich kann sagen: Herr Toller liebte mich in dieser Zeit, und ich ihn auch«, erinnert sich Borch­ardt. »Ich hielt ihn für einen Kameraden, und obwohl ich wusste, dass er eine Diva ist, also eitel und rachsüchtig, so glaubte ich doch, dass er (…) immerhin ein Artist (…) genügend Phantasie, Humor, Pessimismus und Zigeunerhaftigkeit in sich trüge, um eine Ghostwriter-Kameradschaft zu ertragen.« Zum Krach kommt es aber, als Toller einen anderen Ausgang des Stücks fordert. Borchardt wehrt sich gegen »reißerische Mitleidseffekte« und unterstellt Toller, er habe die »religiös-­rebellische Konzeption« seines Stücks nie verstanden.

Der Kontakt bricht ab. Toller fertigt aus der »Befreiung des Pfarrer Müller« ohne weitere Rücksprache das 1939 veröffentlichte Theaterstück »Pastor Hall«. Es ist das letzte Stück Tollers vor seinem Suizid. Über seine Anwälte lässt er Borchardt wissen, er habe nur »einen verschwindend geringen Teil« seiner Vorlage für das Stück verwenden können – eine unhaltbare Behauptung. Besonders die Szenen im Konzentrationslager lassen auf Borchardts Autorschaft schließen, denn er konnte auf eigene Haft­erinnerungen zurückgreifen, wohingegen Toller nie in einem KZ inhaftiert war. Die Forschung ging immer davon aus, dass Toller die Genauigkeit der Schilderungen den Erfahrungsberichten von Willi Bredel, Zenzl Mühsam, Julius Zerfaß, Wolfgang Langhoff und – als einer unter vielen – Hermann Borchardt zu verdanken hat. Durch Briefe belegt ist mittlerweile, dass Borchardt Toller sein »Lagerbuch« (erschienen in Band 1 seiner Werke) im März 1938 gezeigt hat. Die teils wörtlichen Übereinstimmungen des zweiten Akts von »Pastor Hall« mit der entsprechenden Darstellung in Borchardts Stückentwurf sprechen dafür, dass Toller sich hauptsächlich dieser Vorlage direkt bedient hat.

»Ich wollte ja, dass mein Kind unter seinem Namen erscheint«, benennt Borchardt die Misere in einem Beschwerdebrief an die German-American Writers Association, einen Zusammenschluss deutscher Autoren im Exil. Nun, da es nicht mehr sein Kind war, setzte er alles daran, eine Lesung im Steinway Building in New York im Januar 1939 zu verhindern – ohne Erfolg. Noch über Tollers Suizid im Mai 1939, dem eine schwere Depression vorausging, hinaus verklagte Borchardt ihn auf Gewinnbeteiligung an »Pastor Hall«. Da er nicht einmal als Mitarbeiter genannt wurde, hatte Borchardt kein Anrecht auf Tantiemen am Stück, das nicht nur bald in den USA und im Vereinigten Königreich gespielt, sondern 1940 von dem britischen Regisseur Roy Boulting erfolgreich verfilmt wurde. Für die Fassung des Films, die in die US-Kinos kam, sprach Eleanor Roosevelt den Prolog, in dem sie den Naziterror anprangerte. Der Film wurde als die fiktionalisierte Geschichte des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Martin Niemöller beworben. Niemöller selbst hat sich in der Figur des Pastor Hall jedoch nicht wiedererkannt. An Günther Rühle schrieb er im April 1974: »(…) wiedererkennen kann ich mich in dem Bild dieses Helden (…) durchaus nicht.« Kein Wunder, denn Vorbild für das Bühnenstück ist neuesten Erkenntnissen zufolge ein unbekannter Pfarrer aus Ahlbeck an der Ostsee gewesen.

Borchardt machte seinen guten Freund Grosz mitverantwortlich dafür, dass seine Autorschaft an dem Stück unerwähnt blieb. Den linken Literaten im Exil unterstellte er gar, sie verhinderten aus Hass auf ihn, dass seine Texte gedruckt würden – womit er vielleicht sogar recht hatte. Ein Brief des Regisseurs Erwin Piscator zeigt exemplarisch, dass die linken Emigranten Borchardts Autorschaft zumindest anzweifelten: »Einer unserer süssen Kommilitonen, Leidensgenossen und Koemigranten verfolgte ihn hier seit einem Jahr, indem er behauptete, Toller’s neues Stück sei ein Plagiat, noch in den letzten Tagen schrieb er ihm einen hässlichen Brief.«

Die Toller-Affäre versetzte Borch­ardt in Arbeitseifer. Danach schrieb er, auch um zu beweisen, dass er der bessere Schriftsteller ist, in kurzer Zeit die Bühnenwerke »Die Brüder von Halberstadt« und »Der verlorene Haufe«, die beide das Thema des christlich-konservativen Widerstands gegen den Nationalsozialismus weiterführen. Gespielt wurden sie jedoch nicht. Den Streit selbst verarbeitete Borchardt in dem Fragment gebliebenen Stück »Der Unterirdische«, in dem ein Ghostwriter um eine ihm »gestohlene Handschrift« kämpft.

Lukas Laier ist Mitherausgeber der Werke Hermann Borchardts. Borchardts »Urschrift« von »Pastor Hall« findet sich im vor kurzem erschienenen zweiten Band der Edition, der erstmals Borchardts gesamtes dramatisches Werk zugänglich macht.

Hermann Borchardt: Stücke. Werke, Band 2. Herausgegeben von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas ­Laier, Wallstein, Göttingen 2022, 687 Seiten, 49 Euro