José Luis Foncillas, Mitarbeiter des Zivilen Friedensdiensts, im Gespräch über Erinnerungsarbeit in Kolumbien

»Sich engagieren, damit so etwas nie wieder passieren kann«

Mit der Gründung der linken Guerilla Farc 1964 begann in Kolumbien eine Epoche bewaffneter Konflikte. Die meisten Opfer davon waren Zivilist:innen. Zahlreiche Organisationen bemühen sich um Erinnerungs- und Friedensarbeit, so auch die Casa de la Memoria (Haus der Erinnerung). José Luis Foncillas im Gespräch über die Aufarbeitung der Vergangenheit und Zukunftsperspektiven.
Interview Von

Kolumbien hat seit knapp einem Jahr eine neue Regierung. Wird die Erinnerungsarbeit unter der Regierung von Gustavo Petro geschätzt?
Ja, es gibt eine 180-Grad-Wende, wir ­befinden uns in guten Gesprächen mit der Regierung, was in der Vergangenheit nicht der Fall war. Der vormalige Direktor des Nationalen Zentrums für historische Erinnerung (Centro Nacional de Memoria Histórica), Dario Acevedo, hatte den Bürgerkrieg und seine Bedeutung öffentlich geleugnet. Mit der Casa de la Memoria in Tumaco bestand noch nicht einmal Kontakt. Eine unhaltbare Situation, denn wir hatten um Hilfe gebeten. Das ist mit der derzeitigen Direktorin, María Valencia Gaitán, ganz anders. Wir führen einen Dialog und arbeiten mit ihr in einer »Koalition für die Erinnerung und den Frieden« in Kolumbien zusammen.

Wird Erinnerung nun auch außerhalb der Hauptstadt gefördert?
Exakt, das Nationale Zentrum für historische Erinnerung hat in den vergangenen Monaten an Glaubwürdigkeit gewonnen, denn heute werden die Regionen einbezogen – es geht nicht mehr darum, die Geschichte des ­Konflikts allumfassend in Bogotá darzustellen. Es soll Ableger des dortigen Museums in allen Regionen Kolumbiens geben, so die Idee. Für die Hafenstadt Buenaventura, wie Tumaco an der Pazifikküste gelegen und rund 300 Kilometer Luftlinie von dort entfernt, und für das Departamento Caquetá, im Süden Kolumbiens, ist bereits Personal eingestellt worden, um dort Pilotprojekte aufzubauen.
Zudem gibt es einen permanenten Dialog. Die Direktorin unterstützt uns bei der Suche nach Mitteln für die dauerhafte Finanzierung unseres Hauses der Erinnerung, auf nationaler und internationaler Ebene. Das hat es seit der Eröffnung unseres Museums in Tumaco am 19. September 2013 noch nie gegeben. Wir und unsere Arbeit werden heute gewürdigt. Nun hoffen wir auf den nächsten Schritt.

Welche Relevanz hat Erinnerungs­arbeit heute in Kolumbien?
Das Land ist polarisiert. Den an Auf­klärung Interessierten stehen diejenigen gegenüber, die diesen Konflikt ­angeheizt, bewaffnete Gruppen finanziert und keinerlei Interesse an histo­rischer Forschung, Aufklärung und Erinnerung haben. Das sind die Großgrundbesitzer, die einflussreichen Familien, die große Teile der ökonomischen Macht ausüben und nicht wollen, dass en detail ausgeleuchtet wird, was in Kolumbien seit 1964 passiert ist.
Ein klares Beispiel für die Macht dieser Kreise ist der Umgang mit der Wahrheitskommission, deren Bericht (diesen erstellte die 2016 gegründete Kommission auf Grundlage der Aussagen von etwa 30.000 Opfern des Konflikts, Anm. d. Red.) sie nicht anerkennen. Er wurde scharf kritisiert und als einseitig zurückgewiesen. Zudem wurde der Präsident der Wahrheitskommission, Padre Francisco de Roux, als Guerillero bezeichnet – eine glatte Lüge. Teil unserer Tätigkeit im Haus der Erin­nerung ist es, die Arbeit der Wahrheitskommission weiterzutragen – in Workshops, Ausstellungen, den sozialen Medien, auf der Straße, in den Stadtvierteln von Tumaco und darüber hinaus.

Welche Bedeutung haben die Medien in diesem Zusammenhang?
Eine zentrale, aber die meisten tradi­tionellen Medien Kolumbiens befinden sich in den Händen der großen Wirtschaftskonglomerate, die von den einflussreichen Familien kontrolliert ­werden. Kolumbien fehlt ein unabhängiges Mediensystem. Dem stehen die Opferorganisationen gegenüber, die Aufklärung wollen, die wissen wollen, warum ihre Angehörigen ermordet wurden und wer dafür verantwortlich war.

Die Casa de la Memoria scheint aber deutlich mehr als ein Museum der Erinnerung zu sein. Hier können die Angehörigen nicht nur ihrer Toten gedenken, deren Bild aufhängen und ihre Version dessen, was passiert ist, niederschreiben, sondern hier geht es auch um die Zukunft Tu­macos.
Ja, wir regen Initiativen zum Sammeln von Plastikmüll an und geben Kurse zu Umweltschutz und Ressourcenmanagement. Für uns geht es auch um Zukunftsoptionen für diese Region. Wir wollen erklären, was hier passiert ist – in einer Region mit mehr als 9.000 Todesopfern des Bürgerkriegs. Doch wir ­wollen auch darauf hinweisen, was es für einen Wandel braucht – eine engagierte, kritische Zivilgesellschaft. Es geht darum, sich zu engagieren, damit so ­etwas nie wieder passieren kann. Wir haben die Casa gemeinsam, kollektiv konzipiert – mit Familien von Opfern aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten.

Wie lief dieser Prozess?
Wir haben uns mit den Menschen zusammengesetzt, uns über die Gestaltung der drei Säle des Museums und darüber ausgetauscht, was die Menschen wollten: keinen traurigen ­Gedenkort, sondern als Auftakt einen Saal, der die Geschichte Tumacos beleuchtet, die Herkunft der Menschen, ihre Identität und Lebensweise, ihre Kultur und lokale Besonderheiten, ob Karneval, die Marimba (Holzxylophon, Anm. d. Red.) als wichtiges In­strument oder die traditionelle afro­kolumbianische Medizin.

»Den an Aufklärung Interessierten stehen diejenigen gegenüber, die die­­­sen Konflikt angeheizt, bewaff­nete Gruppen finanziert und keiner­­lei Interesse an historischer Forschung, Aufklärung und Erinnerung haben.«

All das findet sich im ersten Saal des Museums und ist auch ein Beleg für die Eigtenständigkeit der Bevölkerung. Der zweite Saal ist ausschließlich den Opfern des bewaffneten Konflikts gewidmet, holt sie aus der Anonymität und erzählt ihre Geschichte aus Per­spektive der Angehörigen. Im dritten Saal geht es dann um die Natur, die Region und ihre Zukunft. Was können wir tun, um der inneren Konsequenz des Konflikts zu entrinnen?

Aber der Konflikt ist nicht zu Ende.
Ja, es vergeht kaum eine Woche ohne einen Mord, ohne die Vertreibung von Menschen von ihrem Land, ohne fürchterliche Unfälle mit Antipersonenminen. Heute sind es nicht mehr die Farc und die Paramilitärs, die sich Gefechte liefern – es sind viele kleine Banden, die um die Kontrolle von Regionen kämpfen. Hier tobt ein Krieg um die Kontrolle von Drogenrouten, denn Nariño ist das Departamento Kolum­biens mit dem höchsten Anteil an Kokaanbaufläche.

Gibt es Initiativen der neuen ­Regierung?
Es gibt den Versuch des Dialogs; die ­Initiative der Regierung beinhaltet, mit allen Akteuren des Konflikts zu verhandeln. Dieser Prozess läuft, das ist ein Fortschritt. Parallel hat die Regierung angekündigt, die Ursache des Konflikts, die extremen sozialen Unterschiede, zu bekämpfen. Tumaco hat eine Armutsquote von 45 Prozent, einzelne angrenzende Gemeinden wie Mosquera haben eine Quote von 90 Prozent. Da fallen die Avancen der bewaffneten Akteure bei den Jugend­lichen auf fruchtbaren Boden – an diesem Punkt will die Regierung mit ­Sozialprogrammen, mit Alternativprodukten zum Koka, darunter Kakao, ­ansetzen.

Wird das Militär weiterhin eingesetzt?
Es gibt eine ganze Reihe von Basen, aber das Territorium ist sehr groß und unübersichtlich. Die Armee hat in 40, 50 Jahren keine militärische Lösung herbeigeführt. Warum sollte das jetzt klappen? Ein Beispiel: In Tumaco und El Charco ist die Armee präsent, nicht aber auf den 100 Kilometern dazwischen im Regenwaldgebiet, und dort gibt es bewaffnete Gruppen.
Ein weiteres Beispiel: Mehr als 100.000 Menschen leben in der Stadt Tumaco, rund 4.000 Soldaten und ­Po­lizisten sind hier stationiert. Aber Fakt ist, dass es ganze Stadtviertel wie Viento Libre, Nuevo Milenio oder La Ciudadela gibt, die von illegalen Gruppen kontrolliert werden. Das ist ein offenes Geheimnis, die Untätigkeit der ­Sicherheitskräfte ist schwer nachzuvollziehen.