Hunderttausende Menschen sind hierzulande süchtig nach Glücksspiel

Bis in den Bankrott

Leere Konten und tief verschuldet: Wer glücksspielsüchtig wird, verliert meist alles. Mathias Kupper war süchtig nach Sportwetten, Nicole Dreifeld spielte an Automaten. Selbsthilfegruppen halfen ihnen beim Ausstieg aus der Sucht.

Am Anfang habe man immer Glück, meint Mathias Kupper, oder zumindest fühle es sich so an: »Es funktioniert und macht Spaß.« Der 38jährige Familienvater aus Berlin war insgesamt drei Jahre spielsüchtig. Sein Hauptfeld, wie er es nennt, waren Online-Sportwetten. »Irgendwann habe ich es zu jeder Tages- und Nachtzeit gemacht«, erzählt er der Jungle World: »Vor dem Schlafengehen habe ich oft noch eine Wette abgeschlossen und, als ich wach geworden bin, erst mal kurz auf mein Handy geschaut.«

Mathias’ Geschichte ist keine Seltenheit. Dem von der Bundesregierung veröffentlichten Glücksspielatlas Deutschland für das Jahr 2023 zufolge leiden 1,3 Millionen Menschen an einer Glücksspielstörung – sie sind süchtig nach Glücksspielen. Weitere 3,25 Millionen Menschen zeigen demnach ein riskantes Glücksspielverhalten mit ersten Anzeichen einer Glücksspielsucht. Dazu gehört zum Beispiel, dass man sich unwohl fühlt, wenn man nicht spielen kann, oder dass man am nächsten Tag zum Glücksspiel zurückkehrt, weil man hofft, verlorenes Geld zurückzugewinnen. Junge Männer sind besonders gefährdet.

Doch wie beginnen Glücksspielkarrieren überhaupt? »Für mich war es Langeweile und Neugierde«, erzählt Kupper. Auf der Arbeit im Schichtdienst hatte er regelmäßig kurze Pausen. Die Zeit vertrieb er sich mit seinem Smartphone – und begann irgendwann, Online-Sportwetten zu spielen. Trotz seiner Fußballbegeisterung wettete er anfangs auf Tennisspiele – »eigentlich komisch«. Er sei von klein auf ein Glückspilz gewesen, etwa beim Pokern in der Familie oder mit den Losen auf der Kirmes: »Das war wohl so ein bisschen der Einstieg.«

Dass Mathias Kupper seiner Spielsucht unkompliziert am Smartphone nachgehen konnte, war verhängnisvoll: »Wenn man bei Freunden war und auf Toilette gegangen ist, dann hat man halt schnell mal ein Spiel gemacht.«

Tobias Hayer, Psychologe und Glücksspielforscher an der Universität Bremen, sagt der Jungle World, man müsse unterschiedliche Aspekte beachten, um die Entwicklung von Spielsüchten zu begreifen. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale erhöhen die Anfälligkeit dafür: eine erhöhte Impulsivität und Risikobereitschaft, geringes Selbstwertgefühl und inadäquater Umgang mit Stress. Hinzu komme die soziale Umgebung, etwa schwierige Lebensumstände oder Stress, die durch eine Sucht kompensiert werden – und das tatsächliche Glücksspielangebot. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren erkläre, warum einige Menschen glücksspielsüchtig werden und andere nicht.

Nicole Dreifeld war ebenfalls jahrelang glücksspielsüchtig, jedoch nicht nach Online-Sportwetten. »Die haben mich nie interessiert«, sagt sie der Jungle World. Die heute 35jährige Mutter zweier Kinder verfiel den Spielautomaten: »Für mich war das immer ein Stück Flucht aus der Realität, ein Stück Flucht aus dem Alltag – nicht zu Hause sein, nicht erreichbar sein, das wäre mit den Online-Sportwetten auch nicht gegeben gewesen.«

Vor Beginn ihrer Glücksspielkarriere arbeitete sie nebenberuflich als Spielhallenaufsicht und wunderte sich über die Kundschaft: »Ich habe das überhaupt nicht verstanden, wie man so viel Geld in einen Automaten stecken kann und warum man damit nicht viel Sinnvolleres macht, als den ganzen Tag in so einer schäbigen, verrauchten Kaschemme zu sitzen.« Irgendwann warf sie selbst vier Euro Trinkgeld in einen Spielautomaten – am Ende hatte sie 50 Euro gewonnen. Der Startschuss ihrer Glücksspielkarriere.

Im Kontrast zu Kupper, der »teilweise vier oder fünf Wetten gleichzeitig laufen hatte«, spielte Dreifeld selbst in ihrer »Hochphase« nicht öfter als vier oder fünf Mal im Monat, verließ die Spielhalle dann jedoch stets mit demselben Resultat: Verlusten. Ihr Konto war leer, sie musste ihren Dispo erhöhen oder anderweitig einen Kredit aufnehmen.

Für Hayer ist das nicht verwunderlich: »It’s all about money«, meint er. »Verschuldung ist für glücksspielsüchtige Menschen meistens ein zentrales Thema. Manche verzocken Haus oder Hof, ohne dass es die Familie merkt« – ein Grund, warum die Suizidrate unter Glücksspielsüchtigen noch höher ist als bei anderen Suchterkrankten. Als Dreifeld kurz davor stand, ihr Haus zu verlieren, habe auch sie solche Gedanken gehabt: »Die Welt ist vielleicht besser dran, wenn ich nicht mehr da bin.«

Spielsucht ist eine Krankheit. In medizinischen Fachkreisen wird sie als stoffungebundene Suchterkrankung eingestuft. Die typischen Symptome ähneln denen der stoffgebundenen Suchterkrankungen wie Alkoholismus: Abstinenzunfähigkeit, Dosissteigerung, Kontrollverlust. »Die Betroffenen haben in der Situation des Zockens keine Kontrolle über das Glücksspielverhalten«, sagt Hayer. Sie spielten auch dann weiter, wenn sich die ersten erheblichen finanziellen Verluste einstellten. »Chasing-Verhalten« nennt man das: Der Spieler »jagt« die Verluste in der Hoffnung, sie wieder wettzumachen. Die hartnäckige Überzeugung glücksspielsüchtiger Menschen, nur noch einmal zocken zu müssen, bis all ihre finanziellen Probleme gelöst seien, beschreibt Hayer als »kognitive Verzerrung«.

Dreifeld erinnert sich: »Spätestens nach dem fünften oder sechsten Monat meiner Spielerkarriere wusste ich, dass kein Gewinn dieser Automaten so hoch sein kann wie das, was ich da schon reingesteckt habe; und trotzdem konnte ich es nicht lassen, weil ich süchtig danach war.« Ihr Suchthirn, wie Dreifeld es nennt, sei »ziemlich fies darin, die eigene Spielsucht schönzureden« – es sei ja bloß ein Hobby, die persönliche »me-time«, Entspannung.
Damit habe sie ihre Schuld- und Schamgefühle erstickt. Familie und Freunden habe sie ständig irgendwelche Ausreden erzählt, um die Zeit in der Spielhalle zu kaschieren. Bagatellisierung, Rationalisierung und Relativierung zählen zu den typischen Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen spielsüchtiger Menschen. Sie lögen sich vor, weiterhin »alles unter Kontrolle« zu haben, erklärt Hayer.

Mathias Kupper wurde auf seinem Smartphone einst ein Tagesumsatz seiner Online-Sportwetten von 10.000 Euro angezeigt. Kurz habe er sich dann gefragt, ob er denn spielsüchtig sei. Doch habe er sich gedacht: »So schlimm ist das doch gar nicht, das sind ja nur Zahlen und vielleicht stimmen die auch gar nicht.« Danach spielte er weiter.

Kuppers Freunde und Familie sollten davon allerdings keinesfalls erfahren: »Es durfte niemand Fragen stellen.« Dies hätte ihn in seinem Spieldruck bloß aufgehalten. Dass Kupper seiner Spielsucht unkompliziert am Smartphone nachgehen konnte, war verhängnisvoll: »Wenn man bei Freunden war und auf Toilette gegangen ist, dann hat man halt schnell mal ein Spiel gemacht.«

Gemeinhin gilt die Spielsucht auch als »hidden addiction«, als verborgene Sucht. Denn anders als bei den meisten stoffgebundenen Suchterkrankungen sind spielsüchtige Menschen äußerlich nicht zu erkennen. »Es gibt keine Nadelstiche wie beim Junkie, keinen torkelnden Gang wie beim Alkoholiker«, sagt Hayer. Früherkennung sei deshalb unglaublich schwierig; spielsuchtkranke Menschen führten oftmals eine Art Doppelleben.

Soziale Treffen wie beispielsweise Geburtstagsfeiern hat Dreifeld, die einst über einen riesigen Freundeskreis verfügte, während ihrer Spielsucht trotzdem immer mehr gemieden. Sie hatte Angst, dass all die Lügen, mit denen sie ihre Spielhallenbesuche kaschierte, in Gesellschaft auffliegen könnten. Außerdem kreisten ihre Gedanken irgendwann sowieso nur noch um eine Frage: »Wo bekomme ich das nächste Geld her? Und wie kriege ich es hin, es beiseite zu packen, so dass in der Familie keiner mitbekommt, wenn ich es wieder in den Automaten stecke?« Viele Freundschaften gingen deshalb verloren.

»Du hast nur Angst und denkst: Es gibt keinen anderen Menschen auf dieser Welt, der so bescheuert ist und so viel Geld an einem Automaten verzockt hat.« Nicole Dreifeld, ehemalige Spielsüchtige

Nach anderthalb Jahren Zocken habe Kupper seiner Frau zum ersten Mal gebeichtet, »viel Geld verloren zu haben«. Sie stand ihm zur Seite und forderte ihn auf, sich von einer Online-Suchtberatung helfen zu lassen. Das tat er und füllte fortan täglich Berichte aus, um sein Verhalten unter Kontrolle zu bekommen. Seine Spielsucht habe Kupper damals aber »noch nicht so ganz anerkannt«. Nach gut einem Jahr kam der Rückfall. Er habe zusätzlich zu den Sportwetten »noch irgendwann angefangen, Online-Casino zu spielen, und dabei innerhalb einer halben Stunde das ganze Geld wiedergewonnen, das ich direkt davor bei Sportwetten verzockt hatte«.

Wie es oft der Fall ist, war das anfängliche Glück im Spiel ein großes Unglück für Kupper. Es gab kein Halten mehr: Nachdem er wenig später »die ganzen Sparkonten geplündert und mein Konto leergeräumt« hatte, stand er »wirklich mit dem Arsch an der Wand« und sei zusammengebrochen – das war der Moment, in dem er sich seine Spielsucht endgültig eingestand.

Genauso wie Dreifeld gelang ihm mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe der Ausstieg aus der Spielsucht. Dreifeld erinnert sich: »Das erste Mal zur Selbsthilfegruppe zu gehen, ist wie der Gang zur eigenen Hinrichtung. Du hast einfach nur Angst und denkst: Es gibt doch keinen anderen Menschen auf dieser Welt, der so bescheuert sein kann und so viel Geld an einem Automaten verzockt hat.« Dort fühlte sie sich dann jedoch verstanden. Sie hörte auch keine Vorwürfe, weil sie insgesamt knapp 30.000 Euro verzockt hatte.

Seit dem 10. Mai 2018 ist Dreifeld, die sich mittlerweile als Vorsitzende des Bundesverbands Selbsthilfe Glücksspielsucht engagiert, spielfrei. Sie zählt jeden einzelnen Tag. Als »beruhigend« empfindet sie diese Zahl. Zugleich dient sie ihr als Rückfallschutz: »Ich will auf keinen Fall wieder bei Tag eins ­anfangen müssen.«