Sonja Pösel, Arolsen Archives, im Gespräch über die Crowdsourcing-Kampagne #everynamecounts

»Wir bauen ein digitales Denkmal«

Die Arolsen Archives, vormals Internationaler Suchdienst, bilden mit rund 30 Millionen Dokumenten das weltweit größte Archiv zu Opfern des Nationalsozialismus. Mit Hilfe der Crowdsourcing-Kampa­gne #everynamecounts will das internationale Zentrum diese Dokumente auch online zur Verfügung stellen. In einer Aktionswoche rund um den 27. Januar, den Tag des Gedenkens an die Opfer des National­sozialismus, übertragen Freiwillige aus aller Welt Informationen von eingescannten Dokumenten in die digitale Datenbank des Archivs – jeder ist zum Mitmachen aufgerufen. Die »Jungle World« sprach mit der Leiterin der Kampagne, Sonja Pösel.
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Was ist das Ziel Ihrer Kampagne?
In erster Linie geht es darum, Zugang zu schaffen. Das ist der ­Gedanke von Open Data: Die Dokumente sind nicht nur für Wis­sen­schaftler:innen wichtig, sondern jeder sollte sich ein Bild von dem menschenverachtenden System der Nazis machen können. Da wir sehr viele Dokumente haben, verfolgen wir unterschiedliche Wege, die Informationen auf den Dokumenten in eine Datenbank zu bringen – unter anderem mit unserer Kampagne. Letztlich bauen wir ein digitales Denkmal für die Opfer des Nationalsozia­lismus.

»Unsere Kampagne bietet die Möglichkeit, sehr niedrigschwellig Originaldokumente anzuschauen.«

Um was für Dokumente geht es bei der derzeit laufenden ­Aktionswoche?
Im Grunde läuft unsere Kampagne permanent, und wir suchen jederzeit nach Freiwilligen, die mithelfen wollen. Für die diesjährige Aktionswoche haben wir uns 30.000 Dokumente aus der 500.000 Dokumente umfassenden »Auswandererkartei« in Bremen aus­gesucht. Von Bremen und Bremerhaven sind sehr viele Menschen ausgereist, deswegen gibt es dort eine große Kartei, die dokumentiert, wer den Terror überlebt hat. Es geht hier um Menschen mit dem Status als displaced person, also um jene, die aufgrund der ­Nazi-Verfolgung ihren Wohnort verloren hatten und nicht mehr dorthin zurückkehren konnten. Sie durften nach Kriegsende in ­andere Länder emigrieren, vornehmlich in die USA, nach Südamerika oder Australien.

Im Zuge der Kampagne übertragen Freiwillige den Inhalt der Dokumente per Hand in eine digitale Datenbank. Werden diese Eingaben dann auch überprüft?
Jedes Dokument wird von je drei Freiwilligen erfasst. Wenn zwei identische Informationsübertragungen vorhanden sind, geht das Dokument als gesichert bei uns in die Datenbank ein. Wenn es drei unterschiedliche Übertragungen gibt, kommt es in die interne Qualitätsanalyse. Das betrifft nur etwa zehn Prozent aller Dokumente – die »Crowd« macht also eine hervorragende Arbeit.

 Freiwillige aus aller Welt helfen mit bei der Crowdsourcing-Kampa­gne #everynamecounts

 Freiwillige aus aller Welt helfen mit bei der Crowdsourcing-Kampa­gne #everynamecounts

Bild:
Arolsen Archives

Was für Herausforderungen gibt es bei dieser Arbeit?
Bei den Dokumenten der diesjährigen Aktionswoche handelt es sich um Dokumente aus der Nachkriegszeit, aber oft sind es auch Täter­dokumente. Diese sind häufig von den Nazis ausgefüllt worden oder von Opfern, die gezwungen wurden, sie auszufüllen. Man kann oft nicht davon ausgehen, dass ein Name auch wirklich so geschrieben wurde, wie er da steht – das betrifft nicht selten die aus der kyrillischen Schrift übersetzten Namen von den aus Osteuropa erfassten Menschen.

Wer nimmt an der Kampagne teil?
Unsere Kampagnenseite ist frei online verfügbar, daher können wir nicht genau überprüfen, wer alles mitmacht. Wir erhalten aber zum Beispiel viele Rückmeldungen von Schulklassen. Unsere Kampagne bietet die Möglichkeit, sehr niedrigschwellig Originaldokumente anzuschauen. Man braucht kein Vorwissen, man kann einfach auf die Website gehen und die Daten von ein paar Dokumenten erfassen. Neben Privatpersonen sind es auch Unternehmen, die zum Beispiel im Rahmen der gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung ihren Angestellten innerhalb der Arbeitszeit dafür Arbeitsstunden zur Verfügung stellen.