Haiti steht vor dem Kollaps

Vollends im Chaos versunken

In Haiti ist der Premierminister Ariel Henry zurückgetreten, nachdem Banden das gefordert hatten. Deren Gewalt ist längst außer Kontrolle. Die Gründung eines Übergangsrats soll Abhilfe schaffen.

Jimmy Chérizier, genannt »Barbecue«, wählte drastische Worte: »Wenn Ariel Henry nicht zurücktritt, gibt es einen Genozid.« Es war die bisher deutlichste Drohung, die der haitianische Bandenführer in Richtung des Premierministers ausgesprochen hatte. Schon im Herbst 2023 hatte Chérizier zum Putsch aufgerufen, seit langem fordert seine aus neun Gangs bestehende Föderation G9 en famille et alliés den Rücktritt Henrys, der die Regierungsgeschäfte seit Sommer 2021 führt, als Präsident Jovenel Moïse ermordet wurde.

In den zweieinhalb Jahren seither ist Haiti, ohnehin eines der ärmsten und instabilsten Länder der Welt, vollends im Chaos versunken. Die bewaffneten Gangs beherrschen inzwischen etwa 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince, darunter den Zugang zum Hafen. Sie terrorisieren die Bevölkerung und bekriegen einander, vor allem aber den Staat. Zählte das Land 2021 noch 1.630 Morde, stieg die Zahl 2022 auf 2.183 und im vergangenen Jahr sprunghaft auf 4.789. Der Staat mit seinen lediglich knapp 10.000 Polizisten – bei insgesamt elf Millionen Einwohnern – hat den Gangs wenig entgegenzusetzen. Die Mitte der neunziger abgeschafften und erst seit 2017 – zumindest auf dem Papier – reaktivierten Streitkräfte Haitis sind in der Krise vollkommen abwesend.

Um sich Unterstützung für die staatlichen Ordnungskräfte zu holen, war Henry Ende Februar nach Kenia gereist. In Nairobi unterzeichnete er ein Abkommen zur Entsendung von 1.000 kenianischen Polizisten. Die Mission war das Ergebnis einer langwierigen Suche nach internationaler Hilfe. Schon im September 2022 hatte Henry um Unterstützung aus dem Ausland gebeten. Doch die USA, die in der Vergangenheit immer wieder militärisch in Haiti interveniert hatten, wollten nicht erneut Truppen schicken. Unter der Ägide der Vereinten Nationen und mit finanzieller Unterstützung der USA erklärte sich Kenia bereit, dem karibischen Staat zu helfen. Die Regierung in Nairobi umging dafür sogar ein Urteil des eigenen Obersten Gerichts, wonach ein solcher Einsatz verfassungswidrig sei.

Bis heute unterhalten politische Parteien enge Verbindungen zu einzelnen Gangs, die ihnen die Unterstützung der Bevölkerung in den Armenvierteln sicherten.

Ob die 1.000 zusätzlichen Polizisten etwas ausgerichtet hätten, wird bis auf weiteres unklar bleiben. Denn die Gangs in Haiti nutzten die Gelegenheit: In Henrys Abwesenheit schlossen sich die G9 und die G-Pep, die zweite große Bandengruppe, zusammen. Unter dem zynischen Namen Viv Ansanm (»Zusammen leben« in haitianischem Kreolisch) formulierten sie das gemeinsame Ziel, die Regierung zu stürzen. In koordinierten Angriffen auf zwei große Gefängnisse befreiten sie Tausende Häftlinge – die Schätzungen reichen von 3.000 bis fast 5.000 –, griffen Polizeistationen an, die dabei teils völlig zerstört wurden, und brachten den Flughafen von Port-au-Prince unter ihre Kontrolle.

Henry waren dadurch alle Wege zurück versperrt. Auf Puerto Rico festsitzend, erklärte er sich am 11. März zum Rücktritt bereit, sobald eine neue Übergangsregierung gebildet sei. Zugleich beschlossen die Mitgliedstaaten der Karibischen Gemeinschaft (Caricom) in Anwesenheit von US-Außenminister Antony Blinken in Kingston auf Jamaika das Vorgehen für einen Übergangsrat, den Conseil de Transition. Vertreter von sieben politischen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Gruppen sollen demnach einen Premierminister ernennen und mit diesem eine Regierung bilden, außerdem einen Nationalen Sicherheitsrat und eine unabhängige Wahlkommission einrichten. Seit 2016 haben in Haiti keine Wahlen stattgefunden.

Dem Conseil de transition gehört ein Zusammenschluss politischer Parteien an, darunter die Parti haïtien Tèt Kale (PHTK) von Jovenel Moïse; der Accord de Montana, ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen, die 2021 die Wahl eines anderen als Henry organisieren wollten; die Partei Les Engagés pour le développement (EDE) des ehemaligen Premierministers Claude Joseph, der 2021 im Machtkampf Henry unterlegen war und als Mitverschwörer des Mords an Moïse angeklagt ist; die auf den ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide zurückgehende sozialdemokratische Fanmi Lavalas; Vertreter des Kapitals (wozu auch die Amerikanisch-haitianische Handelskammer gehört); sowie der Accord du 21 décembre, die Gruppe, die 2021 Henry unterstützt hatte. Sechs Vertreter sind inzwischen benannt.

Die siebte Gruppe, die Platfòm Pitit Desalin, verweigert die Teilnahme. Ihr Vorsitzender ist der ehemalige Senator Jean-Charles Moïse, der 2022 aufgrund seiner Verbindung zum Regime in Venezuela aus den USA abgeschoben wurde. Er hat sich mit Guy Philippe zusammengeschlossen, der 2004 am Sturz des Präsidenten Aristide beteiligt und erst im vergangenen Jahr nach Haiti zurückgekehrt war, nachdem er sechs Jahre wegen Geldwäsche im Zusammenhang mit Drogengeschäften in den USA im Gefängnis gesessen hatte. Moïse und Philippe lehnen den Übergangsrat ab und erheben Anspruch auf die politische Führung Haitis.

Es ist indes fraglich, ob eine solche politische Lösung auch beim Problem der Bandenkriminalität Fortschritte bringen könnte. Zwar hat sich der ehemalige Polizist Chérizier zuletzt immer wieder politisch geäußert, indem er sich als Vertreter des Volks gerierte und behauptete, nicht gegen die Bevölkerung zu kämpfen, sondern gegen die Regierung. Doch mit Plänen für die Zukunft oder eigenen Ansprüchen auf die politische Führung hält er sich zurück. Die Gangs haben kein Interesse daran, die Verwaltung eines gescheiterten Staats zu übernehmen; ihnen genügt es, Zugang zu den finanziellen Ressourcen zu haben.

Die bewaffneten Milizen haben eine lange Tradition in Haiti. Von 1957 bis 1986 kontrollierte die Familie Duvalier das Land, zunächst François Duvalier, genannt »Papa Doc«, dann sein Sohn Jean-Claude, genannt »Baby Doc«. Ihre Herrschaft stützten sie unter anderem auf eine brutale paramilitärische Gruppe: Die Tontons Macoutes waren verantwortlich für über 30.000 Tote. Nach dem Sturz der Diktatur machten einige ihrer Vertreter Karriere in der Politik.

Bis heute unterhalten politische Parteien enge Verbindungen zu einzelnen Gangs, die ihnen die Unterstützung der Bevölkerung in den Armenvierteln sicherten. Auch der Priester Jean-Bertrand Aristide, zwischen 1991 und 2004 mehrmals Präsident, hatte seine eigene Miliz, die Chimères, der Morde, Folter und weitere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.

Chériziers G9 arbeitete in der Vergangenheit eng mit der PHTK zusammen, der Partei von Jovenel Moïse und seinem Vorgänger Michel Martelly. Letzterer war 2011 zum Präsidenten gewählt worden, doch als sein Mandat 2016 auslief, gab es zunächst keinen Nachfolger, weil eine Wahl aufgrund von Protesten und Wahlfälschungsvorwürfen abgesagt worden war.

Unter Martelly bekamen die Gangs mehr Einfluss, er nutzte sie als eine Art alternativen Sicherheitsapparat. Die Verbindungen zu politischen und ökonomischen Akteuren festigten sich. Als Nachfolger Martellys wurde schließlich im November 2016 Moïse gewählt. Während seiner Amtszeit zerfiel das politische System endgültig, da aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage keine Wahlen mehr abgehalten wurden. Im Januar 2023 liefen die Mandate der letzten zehn Senatoren aus.

Bereits 2018 hatten Massenproteste begonnen, weil die Regierung die Treibstoffpreise stark angehoben hatte. Dazu kamen Berichte über die Veruntreuung von Geldern aus dem Programm Petrocaribe, der Entwicklungshilfe Venezuelas für karibische Staaten. Die Demons­tranten forderten ein Ende der Straflosigkeit und der Korruption sowie den Rücktritt von Moïse. Es kam zu Angriffen auf reiche Haitianer und Straßenblockaden.

Die PHTK nutzte ihre Verbindungen zu den Gangs, um die Proteste niederzuschlagen. Beim Massaker von La Saline im November 2018 töteten Uniformierte wahllos mindestens 71 Menschen, vergewaltigten Frauen, verstümmelten Leichen. Die USA setzten 2020 Chérizier deswegen als einen der mutmaßlich Verantwortlichen auf eine Sanktionsliste. Die Banden gewannen aber weiter an Einfluss, dehnten das von ihnen kontrollierte Territorium aus und festigten ihre Strukturen.

Durch die Teilnahme etablierter Parteien am Übergangsrat liegt die Zukunft des Lands also auch in den Händen derjenigen, die für die desolate Lage mitverantwortlich sind. Ob sich der Rat einigen kann und wie sich eine Übergangsregierung gegen die Gangs durchsetzen soll, ist völlig offen. Kenia hat seine Unterstützungsmission jedenfalls vorerst abgesagt.