Die Erfindung der jüdischen Nation

Jörg Hackeschmidts Studie über die zionistische Jugendbewegung und die Herausbildung einer nationalen Identität

Glaubt man deutschen Presseberichten, befindet sich der Staat Israel nicht nur in der schwersten Krise seit seinem Bestehen, sondern hat die Verwerfung auch selbst verschuldet, schließlich bildeten die Juden keine echte Nation. So wird aus der Tatsache, daß ethnisierte Spaltungen - nach der Herkunft der jüdischen Bevölkerungen - die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Israel bestimmen, die kulturalistische These abgeleitet, diese ethnisierten sozialen Prozesse seien ein Beleg dafür, daß hier etwas ethnisch homogenisiert wurde, was nicht zusammenpaßt. Die zionistische Ideologie sei damit hinfällig.

Weniger die Tatsache, daß auch nach fünfzig Jahren noch kein Frieden mit den arabischen Staaten geschlossen wurde, soll die These vom Scheitern des Zionismus begründen; vor allem die düstere Prognose, die sich die israelische Gesellschaft selbst stellt, ist Anlaß für Spekulationen, die immer wieder die Frage aufwerfen, ob die Juden bzw. die Israelis nun ein Volk seien oder nicht. Wenn nicht, so die deutsche Logik, stellt sich die Frage nach dem Staat auch nur relativ.

Jörg Hackeschmidts Studie "Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation" zeigt auf, wie diese Logik die deutsche Reaktion auf die jüdische Nationalbewegung von Anfang an bestimmte und daß umgekehrt die jüdische Nationalbewegung selbst eine Reaktion junger jüdischer Intellektueller auf das Scheitern der Emanzipation in Deutschland und Österreich war. Walter Benjamin, Siegfried Bernfeld, Erich Fromm, Leo Löwenthal u.a. gehörten der zionistischen Jugendbewegung an. Die "postassimilatorische" Generation gründete nach dem Ausschluß aus der "Wandervogelbewegung", die sich dem völkischen Konsens des wilhelminischen Deutschlands schnell anpaßte, eigene Jugendgruppen, aus der der zionistische Jugendverband "Blau-Weiss" hervorging, dessen herausragende Vertreter Kurt Blumenfeld und Felix Rosenblüth waren. Zunächst hatten die jungen Zionisten sich mit der weitgehend assimilierten Generation ihrer Eltern auseinanderzusetzen.

Der Generationskonflikt im jüdischen Bürgertum entzündete sich an der Frage, inwieweit die "Denkweise der Emanzipationszeit abgelöst worden war von einem Nations- und Volksverständnis, das die deutschen Juden wieder (oder wieder mehr) zu einer ungeliebten Minderheit, zu Außenseitern machte - egal, ob sie davor die Augen verschlössen oder sich dieser Erkenntnis stellten".

In diesem "Spannungsfeld aus industriegesellschaftlicher Moderne und neuidealistischen Abwehrreaktionen" handelten Blumenfeld und die zionistische Jugendbewegung, ohne ihre Herkunft in jener kulturpessimistischen und zivilisationskritischen Ideologie leugnen zu können. "Allerdings beinhalte die jugendbewegte Kritik an den Schattenseiten der verstädterten Moderne für junge deutsche Juden eine besondere Komponente: Als Juden wurden sie direkt mit dieser negativ konnotierten Modernität in Verbindung gebracht, da das antisemitische Zerrbild des 'Großstadtjuden' in weiten Kreisen der Kulturpessimisten und Lebensreformer integraler Ideologie-Bestandteil war".

So machte der "Blau-Weiss" auch eine völkische Phase durch, man wolle die "Jugend aus dem Schlamm reißen", heißt es in den Blau-Weiss-Blättern 1918. In der Natur möge der Mensch "in Reinheit seinem eigenen 'Ich' zu dienen lernen und seinem größeren, dessen Teil er nur ist - seinem Volke. Das ist Erlösung." Damit unterscheidet sich die zionistische nicht von anderen bürgerlichen Jugendbewegungen der Zeit. Hackeschmidt erläutert, daß sich "die deutsch-jüdischen Bürgerkinder kaum weniger im Sog des Zeitgeistes" befanden als "ihre nichtjüdischen Altersgenossen, mit denen sie gemeinsam die Schulbank drückten" - daß jedoch dieses "elitäre Bildungs-, Aufklärungs- und Selbsterziehungskonzept" einem "liberalen Gesellschaftsideal" verpflichtet war, "das in entscheidenden Punkten mit den antidemokratischen Modellen der 'konservativen Revolution' nicht kompatibel war."

Selbstverständlich haben die Juden sich eine kollektive nationale Identität "erfunden", aber genau das unterscheidet sie nicht von anderen Gruppen, die Anfang des Jahrhunderts ihre Identitäten erfanden, selbstverständlich hat sich die jüdisch-nationale Jugendbewegung auf denselben lebensreformerischen und kulturpessimistischen "Zeitgeist" berufen wie andere auch: Ihre Leistung besteht aber darin, ihn überwunden zu haben. In Israel, so berichtet ein Zeitzeuge, hätten sich die ehemaligen Aktivisten der zionistischen Jugendbewegung in Deutschland denn auch benommen wie "recht altmodische Liberale". Auch etwas, das man über das deutschnationale Pendant nicht behaupten kann.

Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997, 375 S., DM 56