43. Der Tropfen am Eimer

Fortgesetzte Erzählungen

"Und so?" fragte Hontheimer und steckte Jonny noch ein Himmelschlüsselchen zwischen die Lippen.

Horwitz kicherte zufrieden. Die große Lichtung war voller Blüten, und sie hätten dem guten Mann, dessen Finger endlich die ewige Ruhe gefunden hatten, einen ganzen Strauß ins Maul schieben können, aber sie begnügten sich damit, ihm zwei Arme voll Wiesenblumen auf die Beine zu werfen, damit man nicht sah, daß die Granate ihn hüftabwärts ziemlich zugerichtet hatte.

Er sollte ja auch ein bißchen nett aussehen auf dem Foto, und vor allem quietschlebendig, gut gelaunt, wie Himmelfahrtsschnefter, und nicht so, daß man irrtümlich dachte, jemand hätte sich einen der üblichen militärischen Späße erlaubt.

Tote garnieren, die am Wegrand lagen, daß sie aussahen wie Urlauber oder Marsmenschen und dann zu fotografieren, war eine Lieblingsbeschäftigung von Horwitz und Hontheimer. Sie machten es fast so gerne wie Fünfmarkstücke mit dem Feuerzeug erhitzen.

"Ja, gut so, Heimer", sagte Horwitz und schoß ein paar Bilder. "Jetzt schau nach, ob du seine Adresse findest. Wir brauchen noch 'ne Mütze voll Schlaf." Im Schutz der Nacht wollten sie versuchen, die feindlichen Linien von hinten zu durchdringen und die eigenen Reihen zu erreichen.

Heimer filzte also den Toten, denn die Adresse war wichtig. Irgendwo mußte man die Fotos ja hinschicken, um den Ehefrauen und Müttern eine kleine Freude zu machen, wenn sie sahen, wie sportiv dieser ganze Krieg eigentlich war.

Seit drei Tagen hockten sie in dieser Stellung, ohne Seitenanschluß und so weiter. Sie wußten nicht einmal, ob sie überhaupt in einem Kessel saßen, so einsam war es und friedlich, bis auf den Jabo, der zuweilen über die Wipfel jagte, ganz unbehelligt, was kein gutes Zeichen war. Wenn die Jabos so tief flogen, dann hieß das, daß es bald ein Gewitter gab.

Aber bisher war es ruhig. Die Sonne schien, die Blumen blühten, der Gefechtslärm hatte sich immer weiter entfernt, und ein paar Mal waren sie drauf und dran, einfach loszulaufen, nur der dritte Mann, ein Gefreiter namens Jonas Monk, den sie Jonny nannten, behauptete, es gebe eine Chance, den Kessel südöstlich zu durchstoßen, wenn die Schlacht sich etwas beruhigt hätte.

Jonny, der bei Bernhard Ettè deutschen Swing gespielt hatte, hockte schon in dem Loch, als sie kamen, und Heimer hätte ihn beinahe umgenietet, als er merkte, daß die aufgegebene Stellung, in die er hineinspringen wollte, einen Bewohner hatte. Jonny Monk schlotterte vor Angst, baute aber Männchen, als er die beiden SS-Leute sah, und da er ausreichend Proviant besaß und sie absolut keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden, beschlossen sie, ihm zu vertrauen.

Das waren nun erholsame Tage. Die Zeit hatte sich verdünnisiert, und die zwei Blutsbrüder taten, was Soldaten immer tun, wenn sie frei haben. Sie kratzten sich, spuckten und furzten, dösten oder fluchten und erzählten sich Puffgeschichten, wie die mit dem Fünfmarkstück, das Heimer mit dem Feuerzeug erhitzt hatte, bevor er es hochkant auf den Kneipentisch stellte, genau auf die Ecke, als das Animiermädchen unten ohne an ihrem Tisch vorbeikam, sich auf die Fußspitzen hob und die Schenkel spreizte, um mit den Schamlippen nach dem Geldstück zu schnappen, und wie er sich dabei die Finger verbrannt hatte.

Der Musensohn dagegen, der solche Zoten nicht mochte, zeigte Fotos einer grazilen jungen Frau mit einem heiteren madonnenhaften Gesicht. Sie trug einen hellen weiten Leinenanzug und hatte ein dickes Kind an der Hand, das schmollend an irgendwas lutschte, das aussah wie Mamas Dildo, aber vermutlich war es eine große Mohrrübe.

"Das ist meine Frau Gertrud", sagte er leise, "und das ist Ophelia."

Horre und Heimer gicksten verstohlen. Monk war Pianist und hatte sich in den lehmigen Rand der Stellung eine Art Klaviatur geschabt, auf der er stundenlang übte - Schlager wie "Wir wollen Freunde sein für's ganze Leben" und "Wie schön ist diese Welt", die er mit einem hohen Summton begleitete.

Jedesmal, wenn er sich versummt hatte, begann er die Sequenz von vorne. Solange er übte, verzogen Horre und Heimer sich auf die Wiese, da sie das Geklimper nicht ertrugen, sonnten sich und sprangen nur mal kurz in den Wald, wenn der nächste Jabo heulte.

Es war wirklich angenehm in diesem Kessel, wenn man nur die Vergangenheit und die Zukunft ausschaltete, und der einzige Nachteil der Stellung war eigentlich, daß man sich kalt rasieren mußte, denn natürlich durften sie kein Feuerchen machen.

Aber dann kam diese dumme Granate. Es war früher Morgen, als sie vom Himmel fiel. Sie kam heulend angerauscht, so wie Granaten eben heulen, und lange schien es, als wollte sie noch ein Stück fliegen, und bestimmt war sie auch nicht für Jonny bestimmt, aber dann fiel sie ihm direkt vor die Füße und wühlte sich in den Dreck, aber bevor eine große Staubwolke die Stellung minutenlang verhüllte, sahen H & H noch, wie die Druckwelle ihren Gastgeber bei den Eiern packte und in die Luft schleuderte.

Er flog ein Stück senkrecht in die Höhe, wobei er das rechte Bein verlor, legte sich quer, segelte seitwärts, prallte gegen einen Baum und rutschte an dessen Stamm herab auf den sandigen Waldboden. Horwitz sah, wie der Staub immer dichter wurde, und erinnerte sich an eine Szene, die er vor Jahren in Hofacker im Salon seiner Eltern erlebt hatte.

Er stand an der schwarzen, eichenen Anrichte, auf der eine teure Glaskaraffe stand, und wollte die Weinflasche wieder verkorken, aber die Flasche rutschte seitlich weg, stieß gegen die Karaffe, die sofort zur Schrankkante flutschte und zu Boden fiel. Wie in Trance, wie in Zeitlupe, erlebte er noch einmal den Fall der Karaffe, seinen Versuch, sie aufzufangen, ihren Aufprall, ihr Zerschellen, das Wegspritzen der großen Scherben, das rasche Herausrinnen des Rotweins auf den hellen Dielen, die Bildung des Bodensees, und gebannt schaute er zu, wie der See sich verzweigte, bis er feststellen mußte, daß die Karaffe nicht zerschellt war, sondern daß er sie mit einer reflexartigen Bewegung kurz über den Dielen aufgefangen hatte.

Er lag also, an die Wand des Unterstands gedrückt, und hielt es für möglich, daß auch der Flug des Pianisten nur eine Halluzination eines vorhersehbaren, nicht stattfindenden Ereignisses war, aber dann, als die Wolke sich senkte, stand Heimer schon außerhalb der Kuhle, schaute auf Jonny hinab, schubste ihn mit der Schuhspitze, bückte sich, stellte sich stramm und sagte fast singend: "Die Bombe machte bumm, da fiel der Jonny um, Cheerio!"

Später, als sie Jonny ins Helle geschleift und gegen einen Hinkelstein gelehnt hatten, saßen sie bei ihm, um Abschied zu nehmen.

"Was ist der Mensch?" sagte Horwitz andächtig. "Was ist das Leben?" bekräftigte Hontheimer. "Der Tropfen am Eimer" - "Gewiß doch. Wenn der Eimer voll ist und grade mal überschwappt. Nur ein Tröpfchen. Was da zu Boden fällt, ist der Mensch." - "Und was ist im Eimer?" - "Abwaschwasser."

Und dann sagte Horwitz, während er die Kamera rausholte, und es klang wie eine Auszeichnung: "Ich glaube, wir haben mal wieder einen." Hontheimer stand kurz vorm Weinen. "Was meinst du?" fragte er, "sollten wir ihn in einem Blumenmeer versinken lassen?"

Horwitz nickte: "Gute Idee. Wie eine Träne im Ozean."

Bevor sie aufbrachen, als der Abend über die Bäume hereinfiel, sangen sie noch: "Good bye, Jonny, warst mein bester Freund. Eines Tages, mag's auf Erden sein, mag's im Himmel sein, sind wir wieder vereint."

Dann verschlang sie der tiefe Wald.

Nächste Woche: "Babuschka"