Falsche Zeit, falscher Ort

Am 11. Juli startet die Tour de France. Einer der Favoriten ist der Italiener Marco Pantani

Begonnen hatte das Radsport-Jahr ganz nach Maßgabe des Fahrplans: Das erste Weltcuprennen - von Mailand nach San Remo - gewann wie 1997 Erik Zabel von der deutschen Telekom-Mannschaft im Sprint. Das zweite Weltcuprennen - die Flandern-Rundfahrt - gewann der 32jährige Belgier Johann Museew. Ebenfalls keine Überraschung: Der Mann war 1996 Weltmeister gewesen und hatte die 270 Kilometer durch Nordbelgien schon 1993 und 1995 als Schnellster absolviert.

Danach gerieten einige Fahrpläne durcheinander: Zwar gewann mit Franco Ballerini einer der Favoriten das Weltcuprennen Paris-Roubaix, die französische Sportzeitung L'Equipe aber titelte am Ostermontag: "Das Massaker von Arenberg" - in der Nähe dieses Örtchens liegen einige der zahlreichen Kopfsteinpflaster-Passagen, die die Route zwischen Paris und Roubaix so interessant machen. Daß hier diesmal besonders viele Akteure vom Rad fielen, war nicht ausschließlich den traditionellen Regengüssen zu verdanken, sondern jenen Zuschauern, die im Kampf um die besten Plätze die Bahn der Radfahrer kreuzten. So kamen von 182 Startern nicht einmal 50 in Roubaix an.

Von all dem bemerkte die deutsche Fachöffentlichkeit wenig. Nachdem auch im Ausland ruchbar geworden war, daß der Tour de France-Sieger des Vorjahres, Jan Ullrich, während des Winters wenig trainiert und viel gegessen hatte, wurden beinahe täglich Bulletins zum Körpergewicht des 24jährigen verfaßt. Jedes drittklassige Rennen, bei dem der Telekom-Fahrer startete, wurde schlagzeilenträchtig. Nachdem Ullrich zu Beginn der Saison noch stets nach wenigen Kilometern ermattet vom Rad in den Mannschaftswagen umgestiegen war, besserte sich die Stimmung der Kommentatoren Ende Juni, als der gebürtige Rostocker einige gute Plazierungen auf den schwersten Bergetappen der Tour de Suisse erreichen konnte, die er mit fünf Minuten Rückstand auf den Sieger Garzelli (Italien) als Zehnter beendete.

Im Schatten der Diskussionen um Ullrichs Speisepläne war auch der Giro d'Italia hierzulande kaum beachtet worden - obwohl die 3 900 Kilometer lange Rundfahrt mit ihrer Vielzahl von flott aufeinanderfolgenden Gebirgspassagen höchsten Schwierigkeitsgrades schwerer zu bewältigen ist als die Tour de France. Eigentlich hatte hier der Schweizer Alex Zülle den Gesamtsieg eingeplant, doch es kam anders: Während der ersten Tage durfte Zülle zwar tatsächlich das rosafarbene Trikot des Spitzenreiters tragen, derweil gewann der Italiener Mario Cippolini allerdings drei Etappen im Sprint.

Am 25. Mai gab es überraschend den ersten Tagessieg für das vom Vatikan gesponserte Team Amore & Vita, am 2. Juli verlor Zülle schließlich unvorhergesehen die Führungsposition in der Gesamtwertung an Marco Pantani, der die 217 Kilometer lange Dolomitenetappe von Asagio nach Wolkenstein viereinhalb Minuten vor Alex Zülle beendete. Zwei Tage später fiel die Entscheidung: Auf der Bergetappe nach Plan di Montecampione mit einem zwanzig Kilometer langen Schlußanstieg verlor Zülle über 30 Minuten auf Pantani, der den Giro damit erstmals als Gesamtsieger beendete.

Marco Pantani, 171 Zentimeter groß, 55 Kilogramm schwer, 28 Jahre alt, ist sehr beliebt, nicht nur in seinem Heimatland Italien. Zum einen, weil sich seine Karriere als Drama lesen läßt: 1992 war er Profi geworden, zwei Jahre später fuhr er erstmals den Giro und die Tour de France, zwei Rennen, die er als Zweiter beziehungsweise Dritter beendete. Im Oktober 1995 raste Pantani während des Rennens Mailand-Turin bergab mit 80 Stundenkilometern in einen Jeep und brauchte danach Monate, um die Folgen des Schienbeinbruchs zu überwinden. Beim letztjährigen Giro dann überquerte eine schwarze Katze just in dem Moment, als Pantani vorbeikam, die Straße, der Fahrer stürzte. "Wahrscheinlich der Unfall, der für mich am glimpflichsten verlief. Doch psychologisch war er sehr schlimm, weil ich mich gerade von mehreren Rückschlägen erholt hatte. Als das mit der Katze passierte, war ich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort."

Ein paar Wochen später, während der Tour de France, fuhr Pantani die berüchtigten Serpentinen nach L'Alpe d'Huez in Rekordzeit hinauf und gewann auch noch die Bergetappe nach Morzine. Am Ende der Rundfahrt war er Dritter im Gesamtklassement.

Für die am kommenden Samstag beginnende Tour de France, deren Streckenprofil im Vergleich zum Vorjahr weniger auf die Kletterspezialisten zugeschnitten ist, hat Pantani auch noch Pläne: "Die wenigen Berge können mir reichen, um einen Vorsprung herauszufahren. Mein Plan ist, so gut in Form zu sein, daß ich etwas Unerwartetes tun kann. Da die Tour wegen der Fußball-WM in Frankreich um zwei Wochen verschoben worden ist, wird es heißer sein als sonst. Und das kommt Fahrern wie mir, die mit der Hitze gut zurechtkommen, sehr entgegen."

Starten wird die Tour erstmals in Irland. Dort allerdings gab es im Vorfeld einigen Ärger: Angesichts der maroden Straßen mußte die Dubliner Regierung die Gemeindeverwaltungen dazu überreden, ihre eigentlich für die nächsten vier Jahre vorgesehenen Etats für den Straßenbau schon heuer auszugeben, um den Radprofis die geeignete Rollfläche zu bieten. Nun aber, so der irische Ex-Tour-Sieger Stephen Roche, freuen sich im Armenhaus der EU alle auf das Rennen: "Die Bürgermeister, die noch vor einem Jahr mit Angst und Schrecken auf das Ereignis geblickt haben, sind jetzt stolz darauf, daß die Tour durch ihren Ort kommt und die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sie lenkt."