NS-Staat und Moderne

Lars Rensmanns Studie zur Kritischen Theorie des Antisemitismus

Daß die Kritische Theorie tatsächlich in einem umfassenden Sinne kritisch ist, liegt u.a. darin begründet, daß sie im Nationalsozialismus den Umschlag der modernen Geschichte in die Barbarei erkannte und dieser deshalb im Zentrum ihrer Theoriebildung steht. In den Zeiten eines militanten Revisionismus ˆ la "Schwarzbuch" wird der kritische Gehalt dieser Einsicht abermals deutlich. Im Mittelpunkt des Nationalsozialismus sieht sie die Vernichtung der Juden, wofür der Begriff Auschwitz steht.

Deshalb ist die Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik durch das Institut für Sozialforschung und die Kritische Theorie über den Antisemitismus ein zentraler Bestandteil der Kritischen Theorie insgesamt.

Über die Kritische Antisemitismustheorie liegt nun erstmals eine umfassende Gesamtdarstellung vor. Immer wieder wurde in den letzten Jahrzehnten versucht, an Aspekte dieser Theorie anzuknüpfen, etwa von Detlev Claussen oder Moishe Postone. Dabei hat sich jedesmal die Fruchtbarkeit der Kritischen Theorie über den Antisemitismus gezeigt, doch blieben diese Ansätze weitgehend disparat, eine umfassende Antisemitismusdiskussion hat sich daraus nicht entwickelt. Dies lag sicherlich auch daran, daß die verschiedenen Facetten der Antisemitismusforschung der Kritischen Theorie nie zu einem zusammenhängenden Bild gefügt worden waren.

Lars Rensmanns Buch setzt an diesem Defizit an. Mit beeindruckender Akribie hat er alles gesammelt, was aus den Reihen der Frankfurter Theoretiker zur Analyse des Antisemitismus geschrieben wurde. Dieser Anspruch auf Vollständigkeit macht die Lektüre zuweilen etwas anstrengend, eine Auswahl hätte der Darstellung gut getan. Aufgezeigt wird so jedoch die Vielschichtigkeit der Kritischen Theorie über den Antisemitismus. Rensmann bemüht sich, die verschiedenen Ansätze zu strukturieren und so ihre Zusammenhänge deutlich werden zu lassen.

Nicht einzelne Thesen zum Antisemitismus machen die Kritische Theorie über den Antisemitismus so interessant, sondern - dies ist die These Rensmanns - ihre Verknüpfung zu einer wie immer fragmentarisch gebliebenen Gesamttheorie, deren Kern die "Korrelation von moderner Vergesellschaftung und antisemitischer Ideologie, von Autoritarismus - in Gesellschaftsordnung wie Persönlichkeitsstruktur - und Antisemitismus ist, welche in der historischen Forschung zum Holocaust zumeist als unterschiedliche, wenn nicht als gegensätzliche Triebfedern gedeutet werden".

Rensmann stößt noch in eine weitere Lücke der Rezeption vor. Nachdem er sich mit der Kritischen Theorie über den in Auschwitz kulminierenden modernen Antisemitismus beschäftigt hat, untersucht er die Studien der Kritischen Theorie über den Antisemitismus nach Auschwitz. Daß sich gerade in der "Aufarbeitung" des Nationalsozialismus durch die Deutschen ein neuer, sekundärer Antisemitismus entfaltet, dies hat insbesondere Theodor W. Adorno immer wieder betont. Auf der Grundlage der Kritischen Theorie läßt sich so der strukturelle Zusammenhang von Revisionismus und Nationalismus einerseits und Antisemitismus andererseits erkennen.

An dieser Stelle werden die ungebrochen kritischen Potentiale der Theorie, gerade hinsichtlich der aktuellen politischen Entwicklung in Deutschland, deutlich: "Die politische Kultur der Abwehr, die sich der Stereotypie bedient und in die judenfeindliche überführt, zielt gegen die Opfer so sehr wie auf die Restauration eines deutschen Nationalismus, der von je her dem Antisemitismus eng verwandt ist; diese Erkenntnis ist nicht zuletzt der Kritischen Theorie Adornos geschuldet."

Rensmann macht kein Geheimnis daraus, daß er sich den Positionen der Kritischen Theorie verpflichtet fühlt. Dennoch formuliert er auch grundsätzliche Kritik, und es zeigt sich, daß dies ein weit fruchtbarerer Umgang mit Kritischer Theorie ist als die mancherorts gepflegte Apologetik. Die Konfrontation etwa der Freud-Rezeption der Kritischen Theorie mit der Freud-Kritik von Jessica Benjamin läßt nicht nur die Schwächen, sondern auch die Stärken der kritisch-theoretischen Sozialpsychologie deutlich werden.

Die beiden Teile des Buches über den modernen und über den sekundären Antisemitismus enden jeweils in einem umfangreichen kritischen Kapitel. Hier werden auch die Positionen des Autors deutlicher, die ansonsten hinter den Zitaten und Paraphrasen der großen Theoretiker allzu oft zu verschwinden drohen.

Ein zentraler Einwand betrifft die These vom antisemitischen Ticket, wie sie in den "Elementen des Antisemitismus" formuliert ist. Rensmann kritisiert zu Recht, daß hier die zuvor herausgearbeitete Spezifik von Nationalsozialismus und Antisemitismus im Einerlei der spätkapitalistischen Totalität zu verschwimmen drohe. "Die Kritische Theorie über den Antisemitismus wirkt hier, trotz der Aufrechterhaltung des Bewußtseins vom Umschlag der Dialektik der Aufklärung in Wahnsinn, zum Teil deterministisch und

verallgemeinernd gegenüber der historischen Differenz, die die konkrete Totalität des NS als 'neue Qualität' markierte."

Dahinter verbirgt sich ein grundsätzliches Problem der Kritischen Theorie. Sie hat weitgehend darauf verzichtet, ihre philosophischen Erkenntnisse und Kategorien historisch zu konkretisieren. Dies hat seinen Grund darin, daß ihr für diese Historisierung, und dies bedeutete eine Verbindung mit der Kritik der politischen Ökonomie, lediglich die deterministischen Theorien von Lenin und Rudolf Hilferding zur Verfügung standen.

Als den "eigentlich blinden Fleck der Kritischen Theorie" bezeichnet Rensmann jedoch ein anderes Problem. "Die bedeutendste theoretische Leerstelle der Frankfurter ist, den Besonderheiten der deutschen politischen Kultur und Geistesgeschichte, ihrer Mentalitätsbestände und spezifischen Vorurteilstraditionen nicht Rechnung getragen zu haben." Dies erkläre sich aus der Vorstellung, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse der "Moderne" insgesamt für den Antisemitismus verantwortlich zu machen seien.

Demgegenüber insistiert Rensmann auf der "autoritaristischen Mentalität" der Deutschen, die durch die verspätete Nationalstaatsbildung und das Scheitern einer bürgerlich-demokratischen Revolution zur Grundlage einer spezifisch deutschen antisemitischen politischen Kultur werden konnte. Rensmann fordert deshalb die Integration einer "vergleichenden politischen Kulturforschung" in die Kritische Theorie über den Antisemitismus und verweist dafür unter anderem auf Goldhagens Studie über "Hitler's Willing Executioners".

Nun ist sicher richtig, die teilweise übertriebene Abwehr antideutscher Positionen durch Adorno oder Horkheimer zu kritisieren, widerspricht sie doch bisweilen auch ihren eigenen Aussagen. Doch die Kritik Rensmanns wirft entscheidende Einsichten der Kritischen Theorie gleich mit über Bord. Den Antisemitismus zum Problem der politischen Kultur zu machen, bedeutet, ihn aus der Ebene der Vergesellschaftung zu entfernen. Tatsächlich ist Antisemitismus - und ist die antisemitische Barbarei der Deutschen - nur aus der kapitalistischen und nationalstaatlichen Verfaßtheit der Moderne zu erklären. Erst dann kann gefragt werden, unter welchen konkreten Bedingungen es in Deutschland zu seiner mörderischen Konsequenz kam.

Nur so kann man erkennen, daß die deutsche Gesellschaft nicht deshalb besonders autoritär, nationalistisch und rassistisch war, weil sie hinter der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung zurückblieb, sondern weil sie deren eigene Perspektive antizipierte. Nicht die Verspätung der Nation begründete den Nationalsozialismus, sondern die ideologische Verinnerlichung der antisemitischen Grundlage jedes Nationalstaates, noch bevor es in Deutschland einen Nationalstaat gab.

Deshalb bleibt richtig, daß die Erklärung des totalitären Antisemitismus "in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich" ist (Horkheimer/Adorno). Von der Kritik der "Dialektik der Aufklärung" in eine nur "antideutsch" begründete Haltung zu wechseln, führt deshalb nicht weiter. Die Kritik an den deutschen Verhältnissen und am historischen Projekt Deutschland muß sich immer wieder den Grundlagen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie versichern.

Gerade das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Seiten, das in der Kritischen Theorie zum Ausdruck kommt, ist theoretisch fruchtbar. Rensmann selbst macht schließlich klar, worauf es bei der Fortführung der Kritischen Theorie ankommt. "Die Analyse des Historisch-Konkreten, Kontingenten - die Konkretisierung politischer Machtverhältnisse, sozialer Interessen, historischer Subjekt- und Selbstkonstitutionen etc. - muß also m. E. künftig verstärkt werden, allerdings ohne, wie heute üblich, umgekehrt die Vermittlung des Besonderen mit der gesellschaftlichen Totalität aufzugeben."

Lars Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität. Argument, Berlin/Hamburg 1998, 386 S., DM 49,80