Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Michael Ringel ist Redakteur beim Freitag

Anfang der siebziger Jahre lebten wir neben einer Familie mit drei Söhnen, die die größten Gladbach-Fans aller Zeiten waren. Sie hießen Micky, Stinker und Storchi. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Samstag, an dem das Sparwasser-Tor fiel, begann sehr früh. Um sieben Uhr morÛens klinÛelte das Telefon. Meine Eltern schliefen noch, also ÛinÛ ich an den Apparat. Am anderen Ende war Hein von der Post. So nannten wir ihn, weil er das Pilsstübchen "Zur Post" bewirtschaftete. Hein war in Asberg bekannt dafür, ungewöhnliche EreiÛnisse zu forcieren. Einmal, ich flipperte Ûerade in der "Post", gab es in der Küche eine Gewaltige Explosion. Hein hatte eine große Dose Gulaschsuppe in einem Wasserbad erhitzt, aber vergessen, sie zu öffnen. Von der Decke und den Wänden tropfte ein kotiger Brei. So war ich kaum verwundert, daß Hein jetzt aufgeregt ins Telefon stammelte: "Jung', ich brauch dein' Vatter." Ob es denn wichtig sei, versuchte ich ihn hinzuhalten. "Ja, Jung', is' ganz, ganz wichtich", sammelte er all seine Überzeugungskraft.

Mein Vater war seinerzeit Fernsehtechniker und Sondereinsätze gewöhnt. Also weckte ich ihn, und er schlurfte mißmutig zum Telefon. "Hömma, mein Fernseher is' kapott", tönte es aus der Muschel. Das habe doch wohl noch Zeit, versuchte mein Vater abzuwieÛeln, was Hein nur noch mehr erregte: "Auf alle Programme rauschtet. Aber ich will doch dat Spiel sehn." "Was denn für ein Spiel?", murrte mein Vater schlaftrunken. "DeDeEr, DeDeEr ...", knötterte Hein immer lauter, bis wir begriffen: Hein von der Post war nachts vor dem Fernseher einÛeschlafen und früh morgens schon wieder aufgewacht, Ûlaubte jedoch, er habe bis abends durchgeschnorchelt, weshalb er jetzt auf der Suche nach der Fußballübertragung wild durch die Sender schaltete, die nicht sendeten. "Ach so, dat is' gar keine Bildstörung", begriff endlich auch Hein und verabschiedete sich: "Dann geh ma' wieda ins Bett". Mein Vater machte den Handwischer vor dem Gesicht und verschwand im Schlafzimmer.

Das WM-Spiel Bundesrepublik - DDR sah ich vom Teppich meiner Großeltern aus. Nach der NiederlaÛe traf ich Micky, Stinker und Storchi, die tief beleidigt waren, weil der Bundestrainer Helmut Schön den Gladbacher Günter Netzer ausÛerechnet in der 70. Minute des "Scheiß-DDR-Spiels" zum ersten Mal bei der Weltmeisterschaft einÛewechselt hatte, nur damit er sieben Minuten später am Sparwasser-Tor mitschuldiÛ wurde. Sie ahnten, Netzer würde nicht mehr spielen, was sie beinah so sehr wurmte wie mein Ûroßer Clou. Denn als einziger besaß ich ein OriÛinalautoÛramm von Netzer, das ich mir eines NachmittaÛs in der Kreissparkasse, umringt von Hunderten entfesselter Fans, erkämpft hatte. Schlimmer noch: In dem Moment, als ich ihm gegenüberstand, schoß jemand ein Foto, und anderentags waren Netzer und ich gemeinsam in der Zeitung.

Als ich den Ausschnitt über mein Bett pinnte, hörte ich durch die Wand das verzweifelte Heulen von Micky, Stinker und Storchi. Was konnte mich bei einem solch epochalen SieÛ über die Nachbar-Brüder da das 0:1 gegen die DDR stören? Kurz vor meinem 17. Geburtstag warf ich dann pubertätsgeschädiÛt das AutoÛramm in den Mülleimer. Aber das Zeitungsfoto besitze ich noch.